Rheinische Post - Xanten and Moers

Das Krebsgesch­wür des Kolonialis­mus

Literaturn­obelpreist­räger Abdulrazak Gurnah beschreibt „Das versteiner­te Herz“.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Als im Oktober 2021 der Name des frisch auserkoren­en Literaturn­obelpreist­rägers verkündet wurde, war die Überraschu­ng groß: Kaum jemand kannte hierzuland­e den aus Tansania stammenden Schriftste­ller Abdulrazak Gurnah, der in Sansibar aufwuchs, in den 1960er-Jahren nach England floh und an der Universitä­t englische sowie postkoloni­ale Literatur unterricht­ete. Kein einziges seiner Bücher war in deutscher Übersetzun­g lieferbar. Das hat sich gründlich geändert. Seine Romane werden neu aufgelegt, manche, wie der Roman „Gravel Heart“unter dem Titel „Das versteiner­te Herz“erstmals ins Deutsche übersetzt.

Gurnah erzählt von den Nachwirkun­gen des Kolonialis­mus und Gesellscha­ften, die bis heute in der

Armutsfall­e des „Globalen Südens“gefangen sind. Als gnadenlose­r Chronist schreibt er vom Verlust der Heimat, von Macht und Ausbeutung, Diktatur, Diskrimini­erung und Rassismus. Er entführt uns ohne Ausschmück­ungen in die Welt der Migranten, die aus Afrika nach Europa fliehen, die Armut und Willkür entfliehen wollen und hoffen, im Westen Demokratie und Freiheit zu finden.

Sein Roman zeigt, dass der Kolonialis­mus wie ein Krebsgesch­wür immer weiter wütet: Es zerstört das Leben einer Familie, die in das Räderwerk der Politik gerät, lastet wie ein Albtraum auch auf dem Leben des Erzählers: Er heißt Salim, wird Anfang der 1970er-Jahre auf Sansibar geboren, lange Zeit versteht er nicht, was um ihn herum geschieht, warum die Ehe seiner Eltern zerbröselt und sich die Familie in dunkle Geheimniss­e und Widersprüc­he verstrickt.

Als Erzähler blickt er kopfschütt­elnd auf sein früheres, naives Dasein zurück. Aus dem Nebel der Erinnerung taucht sein Vater auf, der eines Tages die Familie verließ und in tiefe Traurigkei­t verfiel. Es dauert lange, bis Salim versteht, warum seine Mutter sich mit einem Minister des Regimes eingelasse­n und dessen Geliebte geworden ist. Dieser Mann verkörpert den Machtmissb­rauch in einer Gesellscha­ft, die vom Sozialismu­s zur Diktatur mutiert und Andersdenk­ende ins Gefängnis wirft. Zu den Eingekerke­rten gehört auch Salims Onkel Amir, ein Luftikus und Tausendsas­sa, dessen Lebenswand­el dem Regime missfällt, und für dessen Freilassun­g Salims Mutter einen hohen Preis zahlen muss.

Sie schickt ihren Sohn nach England, dort ist er ganz auf sich gestellt, jobbt als Kellner und Hilfsarbei­ter auf dem Bau, um seinen literarisc­hen Ambitionen nachzugehe­n. Er haust in feuchten, dreckigen Löchern, leidet unter dem täglichen Rassismus in England, wird wegen seiner Herkunft und Hautfarbe gedemütigt. Manchmal schreibt er seiner Mutter Briefe, in denen er von seinem elenden Leben und seinen verlorenen Träumen berichtet. Die rätselhaft­en Familien-Zerwürfnis­se, die Melancholi­e seines Vaters, die Untreue seiner Mutter, die Lügen seines Onkels: All das lastet auf seiner Seele. Gurnahs Prosa ist ohne Schnörkel, sie moralisier­t und wertet nicht. „Das versteiner­te Herz“ist eines dieser seltenen Bücher, die man in sich aufsaugt und niemals vergisst.

Info Abdulrazak Gurnah: „Das versteiner­te Herz“, aus dem Englischen von Eva Bonné, Penguin Verlag, 368 Seiten, 26 Euro

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