Rheinische Post - Xanten and Moers
Ließen Eltern kleine Mädchen hungern?
Ein Mann und eine Frau aus Kamp-Lintfort stehen vor Gericht. Sie sollen ihre zwei Kinder misshandelt und vernachlässigt haben. Die Mädchen waren dem Tode nah. Wie es ihnen heute geht und warum der Fall beim Jugendamt unvergessen bleibt.
Am Anfang stand der anonyme Hinweis einer besorgten Nachbarin. Sandra Schulz vom Kamp-Lintforter Jugendamt ist noch heute froh darüber, dass die Frau sich gemeldet hat. „Sonst wären wir wohl viel später gekommen.“Vielleicht zu spät, um das Leben von zwei Kindern zu retten. Die beiden Mädchen, drei und zwei Jahre alt, fanden Mitarbeitende des Jugendamts Ende September 2021 in einem verschlossenen Zimmer einer Wohnung in Kamp-Lintfort. Sie wirkten abgemagert, krank und verstört. „Da war uns noch nicht klar, dass sie sich in Lebensgefahr befanden“, erinnert sich Sandra Schulz. Das wurde einen Tag später klar, als die Mutter die beiden Kinder auf Weisung des Jugendamts in die KinderschutzAmbulanz in Geldern brachte.
Ärzte stellten fest, dass die Mädchen in einem desolaten körperlichen und geistigen Zustand waren. Über einen längeren Zeitraum schienen sie kaum etwas gegessen zu haben. Sie wogen zu wenig, Zeichen der Unterernährung waren auch sichtbar: aufgeblähter Bauch, hervorstehende Knochen, fahles, eingefallenes Gesicht. Die Kinder wiesen zudem Hämatome auf, eines war am Unterleib verletzt, bei dem anderen wurde eine Fehlstellung des Fußes nach einem nicht behandelten Bruch festgestellt.
Die Mädchen wussten mit fester Nahrung anscheinend nichts anzufangen, sie mussten in der Folge zwangsernährt werden, und zwar ganz vorsichtig, weil sonst der Tod aufgrund eines sogenannten Refeeding-Syndroms drohte – dabei geht es, laienhaft ausgedrückt, um eine Überforderung des längere Zeit unterernährten Körpers. Eines der geschwächten Mädchen erlitt bei der stationären Behandlung zudem eine Lungenentzündung und musste künstlich beatmet werden.
Dies sind nur einige Details aus einer Anklage gegen die Eltern der Mädchen. Der 33 Jahre alte Mann und die gleichaltrige Frau müssen sich in einem Strafverfahren in Moers verantworten. Ihnen wird Misshandlung von Schutzbefohlenen und gefährliche Körperverletzung durch Unterlassen vorgeworfen. Eine mehrjährige Haftstrafe droht dem Paar. Ein Verfahren vor dem Familiengericht haben die Eltern
bereits hinter sich. Das Sorgerecht für die Kinder wurde ihnen entzogen. Die Mädchen leben auf Dauer bei Pflegeeltern. Sie werden nach wie vor therapeutisch betreut. „Sie entwickeln sich gut“, sagt Sandra Schulz.
Fast täglich gehen Schulz und
ihre Kolleginnen möglichen Fällen von sogenannten Kindeswohlgefährdungen nach – 326 Meldungen gingen allein 2023 beim Jugendamt in Kamp-Lintfort ein. Zum Glück bewahrheitet sich nicht jeder Verdacht, im Gegenteil. „Von 50 Fällen bestätigen sich 48 nicht“, sagt Schulz.
Schwere Misshandlungen seien noch viel seltener. Öfter komme es vor, dass überforderten Eltern „mal die Hand ausrutscht“. Und noch öfter, dass Kinder leiden, weil Konflikte zwischen den Eltern herrschen.
Erhält das Jugendamt einen Hinweis auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung,
taucht es schnell und ohne Ankündigung an der entsprechenden Adresse auf. „Die betroffenen Eltern sind in den wenigsten Fällen sauer“, sagt Sandra Schulz. Vielmehr fänden sie es gut, dass sich das Jugendamt kümmert. Bestätigt sich ein Verdacht, gäben Eltern auch meist Fehler zu. Der Fall der beiden unterernährten Mädchen ist beim Jugendamt auch deshalb im Gedächtnis geblieben, weil die Eltern keine Versäumnisse eingeräumt hätten. „Der Vater sagte so etwas wie: Die Kinder seien krank gewesen und hätten deshalb nichts gegessen.“
Die Mädchen seien schon früher beim Kinderarzt gewesen. Und eines der Mädchen sei in einem Kindergarten angemeldet gewesen, aber dort kaum hingegangen. Weder der Arzt noch die Kita scheinen Verdacht geschöpft zu haben, beim Jugendamt haben sie sich jedenfalls nicht gemeldet. Umso wichtiger war der Anruf der besorgten Nachbarin. Deshalb appelliert Sandra Schulz: Wer ein Kind gefährdet glaube, solle sich unbedingt ans Jugendamt wenden. Das könne auch anonym geschehen. „Es ist besser, wir schauen einmal zu viel nach, als einmal zu wenig.“