Rheinische Post - Xanten and Moers

Ließen Eltern kleine Mädchen hungern?

Ein Mann und eine Frau aus Kamp-Lintfort stehen vor Gericht. Sie sollen ihre zwei Kinder misshandel­t und vernachläs­sigt haben. Die Mädchen waren dem Tode nah. Wie es ihnen heute geht und warum der Fall beim Jugendamt unvergesse­n bleibt.

- VON JOSEF POGORZALEK

Am Anfang stand der anonyme Hinweis einer besorgten Nachbarin. Sandra Schulz vom Kamp-Lintforter Jugendamt ist noch heute froh darüber, dass die Frau sich gemeldet hat. „Sonst wären wir wohl viel später gekommen.“Vielleicht zu spät, um das Leben von zwei Kindern zu retten. Die beiden Mädchen, drei und zwei Jahre alt, fanden Mitarbeite­nde des Jugendamts Ende September 2021 in einem verschloss­enen Zimmer einer Wohnung in Kamp-Lintfort. Sie wirkten abgemagert, krank und verstört. „Da war uns noch nicht klar, dass sie sich in Lebensgefa­hr befanden“, erinnert sich Sandra Schulz. Das wurde einen Tag später klar, als die Mutter die beiden Kinder auf Weisung des Jugendamts in die Kinderschu­tzAmbulanz in Geldern brachte.

Ärzte stellten fest, dass die Mädchen in einem desolaten körperlich­en und geistigen Zustand waren. Über einen längeren Zeitraum schienen sie kaum etwas gegessen zu haben. Sie wogen zu wenig, Zeichen der Unterernäh­rung waren auch sichtbar: aufgebläht­er Bauch, hervorsteh­ende Knochen, fahles, eingefalle­nes Gesicht. Die Kinder wiesen zudem Hämatome auf, eines war am Unterleib verletzt, bei dem anderen wurde eine Fehlstellu­ng des Fußes nach einem nicht behandelte­n Bruch festgestel­lt.

Die Mädchen wussten mit fester Nahrung anscheinen­d nichts anzufangen, sie mussten in der Folge zwangsernä­hrt werden, und zwar ganz vorsichtig, weil sonst der Tod aufgrund eines sogenannte­n Refeeding-Syndroms drohte – dabei geht es, laienhaft ausgedrück­t, um eine Überforder­ung des längere Zeit unterernäh­rten Körpers. Eines der geschwächt­en Mädchen erlitt bei der stationäre­n Behandlung zudem eine Lungenentz­ündung und musste künstlich beatmet werden.

Dies sind nur einige Details aus einer Anklage gegen die Eltern der Mädchen. Der 33 Jahre alte Mann und die gleichaltr­ige Frau müssen sich in einem Strafverfa­hren in Moers verantwort­en. Ihnen wird Misshandlu­ng von Schutzbefo­hlenen und gefährlich­e Körperverl­etzung durch Unterlasse­n vorgeworfe­n. Eine mehrjährig­e Haftstrafe droht dem Paar. Ein Verfahren vor dem Familienge­richt haben die Eltern

bereits hinter sich. Das Sorgerecht für die Kinder wurde ihnen entzogen. Die Mädchen leben auf Dauer bei Pflegeelte­rn. Sie werden nach wie vor therapeuti­sch betreut. „Sie entwickeln sich gut“, sagt Sandra Schulz.

Fast täglich gehen Schulz und

ihre Kolleginne­n möglichen Fällen von sogenannte­n Kindeswohl­gefährdung­en nach – 326 Meldungen gingen allein 2023 beim Jugendamt in Kamp-Lintfort ein. Zum Glück bewahrheit­et sich nicht jeder Verdacht, im Gegenteil. „Von 50 Fällen bestätigen sich 48 nicht“, sagt Schulz.

Schwere Misshandlu­ngen seien noch viel seltener. Öfter komme es vor, dass überforder­ten Eltern „mal die Hand ausrutscht“. Und noch öfter, dass Kinder leiden, weil Konflikte zwischen den Eltern herrschen.

Erhält das Jugendamt einen Hinweis auf eine mögliche Kindeswohl­gefährdung,

taucht es schnell und ohne Ankündigun­g an der entspreche­nden Adresse auf. „Die betroffene­n Eltern sind in den wenigsten Fällen sauer“, sagt Sandra Schulz. Vielmehr fänden sie es gut, dass sich das Jugendamt kümmert. Bestätigt sich ein Verdacht, gäben Eltern auch meist Fehler zu. Der Fall der beiden unterernäh­rten Mädchen ist beim Jugendamt auch deshalb im Gedächtnis geblieben, weil die Eltern keine Versäumnis­se eingeräumt hätten. „Der Vater sagte so etwas wie: Die Kinder seien krank gewesen und hätten deshalb nichts gegessen.“

Die Mädchen seien schon früher beim Kinderarzt gewesen. Und eines der Mädchen sei in einem Kindergart­en angemeldet gewesen, aber dort kaum hingegange­n. Weder der Arzt noch die Kita scheinen Verdacht geschöpft zu haben, beim Jugendamt haben sie sich jedenfalls nicht gemeldet. Umso wichtiger war der Anruf der besorgten Nachbarin. Deshalb appelliert Sandra Schulz: Wer ein Kind gefährdet glaube, solle sich unbedingt ans Jugendamt wenden. Das könne auch anonym geschehen. „Es ist besser, wir schauen einmal zu viel nach, als einmal zu wenig.“

 ?? FOTO: ANNETTE RIEDL/DPA ?? Ein Mann hält ein Kind fest am Arm (gestellte Szene).
FOTO: ANNETTE RIEDL/DPA Ein Mann hält ein Kind fest am Arm (gestellte Szene).

Newspapers in German

Newspapers from Germany