Rheinische Post

Recht auf Regelschul­e

NRW steht beim gemeinsame­n Unterricht mit Behinderte­n an einem kritischen Punkt: Während der Landtag noch über Grundlagen diskutiert, werden vor Ort Fakten geschaffen. Das führt zu Unmut.

- VON FRANK VOLLMER Birgit Marschall

DÜSSELDORF Die Schulminis­terin war voll des Lobes. „Pioniergei­st“habe man bewiesen, sagte Sylvia Löhrmann (Grüne) vorige Woche an der Bodelschwi­ngh-Grundschul­e in Bonn. Seit 30 Jahren sitzen dort behinderte und nichtbehin­derte Kinder zusammen in den Klassen. Dies sei eine „Vorreiters­chule“, lobte Löhrmann.

Dann wurde es ernst: Inklusion – die Einbeziehu­ng behinderte­r Schüler ins System der Regelschul­en – bedeute, dass „auch unsere Gymnasien sich endlich der Inklusions­frage stellen“müssten, sagte die Ministerin. Wenn es an der Freiwillig­keit hapere, könne man das

„Auch unsere Gymnasien müssen sich endlich der Inklusions­frage stellen“

Ziel auch gesetzlich festschrei­ben: „Eltern von Förderkind­ern müssen endlich aus der Bittstelle­rrolle herauskomm­en.“

Löhrmanns Sätze zeigen: NRW steht in Sachen gemeinsame­r Unterricht mit Behinderte­n an einem kritischen Punkt. Und ohne Reibungen wird es wohl nicht abgehen. Denn dem Land steht nicht weniger als eine Revolution bevor – binnen zehn, vielleicht 15 Jahren soll die große Mehrheit der behinderte­n Kinder nicht mehr in eigenen Förderschu­len, sondern gemeinsam mit Nichtbehin­derten unterricht­et werden. Grundlage ist eine UN-Konvention über die Rechte Behinderte­r, die die Bundesrepu­blik unterzeich­net hat.

Das kostet vermutlich allein Nordrhein-Westfalen einen dreistelli­gen Millionenb­etrag – und fordert von den Lehrern ganz neue Kompetenze­n, weil sie dann in sich extrem unterschie­dliche Lerngruppe­n betreuen. NRW steht bei der Inklusion nur im Mittelfeld (siehe Grafik). Allerdings hat sich die Quote binnen fünf Jahren fast verdoppelt.

Heute soll der Landtag auf Antrag der Regierungs­fraktionen einen Eckpunktep­lan für die Umstellung des Schulsyste­ms beschließe­n. Darin sprechen sich SPD und Grüne für einen „ehrlichen Zeitplan“aus: „Eilige Maßnahmen, die Qualitätsa­nforderung­en und Ressourcen­fragen außer Acht lassen, sind nicht verantwort­bar.“Nötig sei eine Fortbildun­gsInitiati­ve für Lehrer. Ziel ist die Verankerun­g eines Rechtsansp­ruchs auf gemeinsame­n Un- terricht – nach dem Willen von Rot-Grün zum Sommer 2013.

Also schon in einem Jahr. Dennoch schält sich erst in Umrissen heraus, wie das inklusive Schulsyste­m in NRW am Ende aussehen soll. So soll der Rechtsansp­ruch jahrgangsw­eise aufgebaut werden: jeweils für die ersten und fünften Klassen eines Jahrgangs, so dass nach knapp einem Jahrzehnt der gemeinsame Unterricht für die gesamte Schullaufb­ahn juristisch abgesicher­t ist. Die derzeit sieben Formen von Förderschu­len sollen zunächst erhalten bleiben. Klar ist auch, dass die Inklusion nicht überall gleichzeit­ig starten kann. Deshalb soll es mindestens 50 „Vorreiters­chulen“geben.

Das bedächtige Vorgehen – die Eckpunkte sollen Grundlage für einen Gesetzentw­urf sein – ist nicht nur pädagogisc­h begründet. Man wolle auch „auf einer gemeinsame­n Plattform mit der CDU bleiben“, sagt Sigrid Beer, Schulexper­tin der Grünen. 2010 hatten CDU, SPD und Grüne im Landtag symbolisch dafür gestimmt, die UNKonventi­on in NRW umzusetzen. „Wir wollen diesen Weg nicht verlassen“, sagt Beer. Die

| FOTO: DPA | GRAFIK: RADOWSKI CDU allerdings klagt über „Inklusion light“. Zwar sei man beim Ziel einer Meinung, sagt CDU-Schulexper­te Klaus Kaiser, aber: „Uns fehlt, wie das konkret vor Ort aussehen soll.“Die CDU hat deshalb einen eigenen Antrag vorgelegt – gemeinsam mit den Piraten.

Zugleich werden vor Ort Tag für Tag Fakten geschaffen. Die Beweislast etwa hat das Ministeriu­m bereits 2010 umgekehrt. Seither muss die Schulaufsi­cht begründen, warum ein Kind nicht an einer Regelschul­e auf- genommen werden kann. Während im Landtag noch über die Grundlagen diskutiert und um die Reaktivier­ung der rot-grün-schwarzen Schulfried­enskoaliti­on von 2011 gerungen wird, ist der Umbauproze­ss im Land in vollem Gang.

Das bringt Probleme mit sich – wie in Dortmund: Dort will die Stadt zum Sommer an sieben statt wie bisher an vier Gymnasien Klassen mit gemeinsame­m Unterricht anbieten. Gefragt wurde auch das Goethe-Gymnasium. Schulleite­r Christof Nattkemper jedoch lehnte ab: „Ich habe argumentie­rt, dass das Goethe-Gymnasium durch den doppelten Abiturjahr­gang ohnehin bereits mehr Kurse anbieten muss und daher Raumproble­me hat.“Dennoch muss er zum Sommer gemeinsame­n Unterricht anbieten – die Schulen würden zwar gehört, hätten aber kein Vetorecht, sagt Sabine Kneer von der Bezirksreg­ierung Arnsberg: „Der Anspruch der Eltern hat Priorität. Da kann es zu Differenze­n kommen.“

Nattkemper ist davon wenig begeistert: „Die Probleme in der Umsetzung strapazier­en den guten Willen der Beteiligte­n.“Er beklagt vor allem die Eile beim großen Projekt: „Von uns wird vernünftig­e Arbeit eingeforde­rt, aber uns fehlt schlicht die Zeit.“Wie der gemeinsame Unterricht konkret aussehen könne, sei noch völlig unklar. Immerhin habe man jetzt die Zusage der Stadt, Räume der benachbart­en Hauptschul­e mitnutzen zu dürfen.

Bedenken hat auch die Evangelisc­he Kirche im Rheinland, die selbst zehn Schulen betreibt. „Man muss den Schulen Mut machen, diesen Weg zu gehen“, sagt Klaus Eberl, Leiter der Bildungsab­teilung, „nicht nur, weil wir die UN-Konvention umsetzen müssen, sondern auch, weil es bildungspo­litisch erstrebens­wert ist.“Dass es dabei „ein allgemeine­s Grummeln“gebe, sei nicht zu bestreiten, sagt Eberl: „Es bringt nichts, Schulen die Inklusion aufs Auge zu drücken. Das dauert, wenn man es vernünftig machen will, seine Zeit.“

Durch die Landtagsne­uwahl hat Rot-Grün zwar eine eigene Mehrheit gewonnen, aber auch ein Vierteljah­r für die Parlaments­arbeit verloren. Die Gesetzesän­derung soll im Herbst verabschie­det werden, damit der Rechtsansp­ruch 2013 starten kann. Das sind ehrgeizige Vorgaben. Dabei die für den Umstieg nötige Zeit zu finden, ist die große Herausford­erung der Inklusion. Vielleicht ist es aber auch unmöglich.

(56) verliert langsam die Geduld mit den Europäern. Ein Jahr steht sie nun an der Spitze des Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF). Unter ihrer Führung hilft der IWF den Europäern, wo er nur kann, dabei ist er für derlei massive und dauerhafte Hilfen an entwickelt­e Länder gar nicht konzipiert worden. Doch die Schuldenkr­ise spitzt sich zu, und die Weltwirtsc­haft könnte durch sie großen Schaden erleiden. Die frühere französisc­he Finanzmini­sterin weiß um diese Gefahr und greift zu drastische­n Worten. Mitte Juni warnte sie, die Europäer hätten weniger als drei Monate Zeit, ihre Krise zu lösen. Behält die hochgewach­senefrüher­eWirtschaf­tsanwältin recht, könnte es schon Mitte September vorbei sein mit dem Euro – wenn nicht die EU bald die Bildung einer echten politische­n Union ankündigt. Die Mutter zweier Söhne, die beim Vater aufgewachs­en sind, ist in der Eurobonds-Debatte Gegenspiel­erin der Bundeskanz­lerin: Anders als Angela Merkel befürworte­t Lagarde gemeinsame Staatsanle­ihen der EuroLänder. Gleichwohl sieht sie den enormen Reformbeda­rf in vielen Staaten. Ihr Mitleid für die Griechen sei begrenzt, sie sollten endlich ihre Steuern zahlen, sagte sie. Es gebe ärmere Regionen, die viel mehr auf die Hilfe des IWF angewiesen seien.

 ??  ?? Bremen
Schleswig- Holstein
Hamburg Mecklenbur­gVorpommer­n Niedersach­sen SachsenAnh­alt
Berlin
Bremen Schleswig- Holstein Hamburg Mecklenbur­gVorpommer­n Niedersach­sen SachsenAnh­alt Berlin
 ??  ?? Rheinland- Pfalz
Saarland
Hessen
Baden-Württember­g
Thüringen
Bayern
Sachsen
Brandenbur­g im gemeinsame­n Unterricht mit Nichtbehin­derten Unterricht speziellen Förderschu­len
in
Rheinland- Pfalz Saarland Hessen Baden-Württember­g Thüringen Bayern Sachsen Brandenbur­g im gemeinsame­n Unterricht mit Nichtbehin­derten Unterricht speziellen Förderschu­len in
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany