Gummi-paragraf knebelt russische Hilfsorganisationen
MOSKAU Eine Knochenmarktransplantation rettete dem kleinen Leukämie-Patienten Kirill Sjomotschkin das Leben. Weil seine Eltern die Behandlung nicht bezahlen konnten, übernahm die Kinderhilfsorganisation „Gib Leben“die Kosten. Die in Russland hochangesehene Stiftung sammelt Geld zur Behandlung krebskranker Kinder – auch im Ausland. Doch künftig könnten Organisation wie „Gib Leben“gezwungen sein, sich beim Justizministerium als „ausländische Agenten“zu registrieren. So will es ein Gesetzentwurf, den die Kremlpartei Geeintes Russland eingebracht hat. Ziel der bizarr anmutenden Regelung: Der Kreml will den Druck auf unbequeme Nicht-Regierungsorganisationen erhöhen. In der russischen Führung herrscht die Vorstellung, der wachsende Widerstand in der Gesellschaft sei von den USA und anderen westlichen Staaten finanziert.
In dem Gesetzesvorhaben heißt es, als „ausländischer Agent“gelte eine „russische nicht-kommerzielle Organisation, die Zuwendungen von ausländischen Staaten, internationalen und ausländischen Organisationen oder Bürgern anderer Länder erhält“. Die Regelung greife dann, wenn die Nicht-Regierungsorganisation „politisch“tätig sei. Unter diesen Begriff falle jegliche Handlung, die „den Widerstand gegen Entscheidungen staatlicher Organe oder die Änderung der staatli- chen Politik“zum Ziel habe oder „die öffentliche Meinung zu diesem Zweck formen“wolle.
Von diesem Gummi-Paragrafen könnten viele Gruppen betroffen sein, die Fördergelder aus dem Ausland beziehen. Der GorbatschowFonds etwa, die WahlbeobachterOrganisation Golos, das HelsinkiKomitee, die Menschenrechtsorganisation Memorial und die russische Sektion von Amnesty International. Aber eben auch „Gib Leben“, denn deren Gründerinnen prangern öffentlich das marode und korrupte russische Gesundheitswesen an und fordern Gesetzesänderungen, um die Behandlung krebskranker Kinder zu erleichtern. Zudem bekam „Gib Leben“im vergangenen Jahr 191 000 US-Dollar und 29 000 Euro an Spenden aus dem Ausland.
Die geplante Registrierung von Initiativen als „ausländische Agenten“würde die Nicht-Regierungsorganisationen zudem mit höheren Steuern, größerem Verwaltungsaufwand und ständigen behördlichen Kontrollen belasten – in Russland ein Alptraum. Die Direktorin des Helsinki-Komitees, Ljudmila Aleksejewa, und der Chef der „Bewegung für Menschenrechte“, Lew Pomomarjow, haben deshalb bereits angekündigt, dass ihre Organisationen ihre Arbeit einstellen werden, sollte das Gesetz in Kraft treten. Unter Druck sieht sich auch die Wahlbeobachter-Initiative Golos, die unter anderem mit EU-Mitteln finanziert wird. „Wir zeigen keine politische Aktivität und streben auch nicht an die Macht“, erklärt der Vize-Vorsitzende Grigori Melkonjanz, „aber mit diesem Gesetz kann die Obrigkeit uns erpressen: Entweder ihr registriert euch, oder ihr wandert ins Gefängnis und zahlt Millionen an Strafe.“
Präsident Wladimir Putin hatte mehrfach behauptet, Wahlbeobachter wie Golos seien eigentlich die Agenten ausländischer Mächte. Er äußerte auch die Überzeugung, die Demonstranten, die im Winter gegen die Fälschungen bei der Dumawahl auf die Straße gegangen waren, hätten auf das „Startsignal“von US-Außenministerin Hillary Clinton gewartet und würden vom amerikanischen State Department bezahlt.