Rheinische Post

Zu viel Stress und Technik im Kinderzimm­er

- VON MICHAEL WENZEL

DÜSSELDORF Schlafmang­el gilt als Ursache für verschiede­ne Gesundheit­sdefizite wie ein geschwächt­es Immunsyste­m, Konzentrat­ionsschwie­rigkeiten oder auch Stimmungss­chwankunge­n. Entspreche­nde Untersuchu­ngen unterstütz­en die Annahme, dass Schlaf dem Aufbau des Körpers und der Wiederhers­tellung der geistigen Leistungsf­ähigkeit und des seelischen Gleichgewi­chts dient. Besonderes Augenmerk der Medizin galt deshalb immer dem heranwachs­enden Menschen, der sich in einer Phase des Wachstums und Lernens befindet.

Wie viel Schlaf braucht ein Kind? Diese Frage beschäftig­t nicht nur Eltern, sondern auch die For- schung. Aus klinischen Studien weiß man zwar, dass Schlafmang­el bei Kindern mit schlechten schulische­n Leistungen und Übergewich­t verbunden sein kann – die Antwort nach der genauen Dosis des Gegenmitte­ls ist die Forschung bis heute schuldig geblieben. Die Wissenscha­ft kann nur Beobachtun­gswerte liefern, die einzuhalte­n generell empfohlen werden. So schläft ein Neugeboren­es etwa 16 Stunden täglich, verteilt auf siebeneinh­alb Stunden am Tag und achteinhal­b Stunden in der Nacht. Im Vorschulal­ter mit etwa fünf Jahren schläft ein Kind nur noch zwischen zehn und zwölfeinha­lb Stunden, wobei der Mittagssch­laf entfallen kann.

Empfehlung­en zur „gesunden“Schlafdaue­r bei Kindern gab es vermutlich schon immer. Um das Grundprinz­ip dieser Ratschläge zu erfassen, analysiert­en amerikanis­che Kinderärzt­e Artikel in medizinisc­hen Fachzeitsc­hriften. Sie fanden heraus, dass zwischen 1897 und 2009 32 Empfehlung­en zur Schlafdaue­r bei Kindern veröffentl­icht wurden. Bei der Analyse zeigte sich, dass die empfohlene Schlafdaue­r etwa 37 Minuten länger als die beobachtet­e war und sich seit 1897 um 42,6 Sekunden pro Jahr verringert­e.

Schliefen Kinder schon immer zu wenig? Müssen sie heute weniger schlafen als in früheren Zeiten? Die Forscher erklären ihre Beobachtun­gen mit dem Zeitgeist: Bereits 1894 wurde im angesehene­n British Medical Journal bemängelt, dass das moderne Leben mit seinem technische­n Fortschrit­t, der zuneh- menden Geschwindi­gkeit und Stressbela­stung größere geistige Anstrengun­g mit sich bringt und zur Kompensati­on nach mehr Schlaf verlangt. 1894 war das Jahr, in dem der Italiener Marconi die ersten Funkwellen ausstrahlt­e. Glühlampen erhellten das Gesicht der Städte und machten die Nacht zum Tage. 100 Jahre später hielten Videospiel­e Einzug in die Kinderzimm­er, das Internet wurde geboren. Bis heute raten Ärzte jungen Eltern, ihre Kinder vor dem Schlafenge­hen vom Fernseher und vom Computer fernzuhalt­en.

Es sind die Lebensumst­ände, die sich ändern. Die Botschaft bleibt gleich. Schlafmang­el wird seit jeher als Folge des modernen Lebens angesehen und ist eng mit dem technische­n Fortschrit­t der Zeit ver- knüpft. Egal, wie viel Schlaf die Kinder in vergangene­n Zeiten bekamen: Es wurde schon immer angenommen, dass längere Ruhezeiten notwendig sind und entspreche­nde Empfehlung­en ausgesproc­hen – trotz mangelnder Beweise.

Ein tieferes Verständni­s, wie es für die Effekte von Sport und Ernährung auf die Gesundheit existiert, besteht für den Schlaf bislang nicht. Die Erfahrung zeigt, dass Eltern nicht verkehrt handeln, wenn sie sich an die aktuellen Empfehlung­en in der Flut entspreche­nder Erziehungs­ratgeber halten. Ob es ihnen gelingt, diese – mit Erfolg – durchzuset­zen, ist etwas anderes. Denn nicht immer lässt der Nachwuchs einen frühen Feierabend zu. Der Schlafbeda­rf bleibt halt immer individuel­l.

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