Zu viel Stress und Technik im Kinderzimmer
DÜSSELDORF Schlafmangel gilt als Ursache für verschiedene Gesundheitsdefizite wie ein geschwächtes Immunsystem, Konzentrationsschwierigkeiten oder auch Stimmungsschwankungen. Entsprechende Untersuchungen unterstützen die Annahme, dass Schlaf dem Aufbau des Körpers und der Wiederherstellung der geistigen Leistungsfähigkeit und des seelischen Gleichgewichts dient. Besonderes Augenmerk der Medizin galt deshalb immer dem heranwachsenden Menschen, der sich in einer Phase des Wachstums und Lernens befindet.
Wie viel Schlaf braucht ein Kind? Diese Frage beschäftigt nicht nur Eltern, sondern auch die For- schung. Aus klinischen Studien weiß man zwar, dass Schlafmangel bei Kindern mit schlechten schulischen Leistungen und Übergewicht verbunden sein kann – die Antwort nach der genauen Dosis des Gegenmittels ist die Forschung bis heute schuldig geblieben. Die Wissenschaft kann nur Beobachtungswerte liefern, die einzuhalten generell empfohlen werden. So schläft ein Neugeborenes etwa 16 Stunden täglich, verteilt auf siebeneinhalb Stunden am Tag und achteinhalb Stunden in der Nacht. Im Vorschulalter mit etwa fünf Jahren schläft ein Kind nur noch zwischen zehn und zwölfeinhalb Stunden, wobei der Mittagsschlaf entfallen kann.
Empfehlungen zur „gesunden“Schlafdauer bei Kindern gab es vermutlich schon immer. Um das Grundprinzip dieser Ratschläge zu erfassen, analysierten amerikanische Kinderärzte Artikel in medizinischen Fachzeitschriften. Sie fanden heraus, dass zwischen 1897 und 2009 32 Empfehlungen zur Schlafdauer bei Kindern veröffentlicht wurden. Bei der Analyse zeigte sich, dass die empfohlene Schlafdauer etwa 37 Minuten länger als die beobachtete war und sich seit 1897 um 42,6 Sekunden pro Jahr verringerte.
Schliefen Kinder schon immer zu wenig? Müssen sie heute weniger schlafen als in früheren Zeiten? Die Forscher erklären ihre Beobachtungen mit dem Zeitgeist: Bereits 1894 wurde im angesehenen British Medical Journal bemängelt, dass das moderne Leben mit seinem technischen Fortschritt, der zuneh- menden Geschwindigkeit und Stressbelastung größere geistige Anstrengung mit sich bringt und zur Kompensation nach mehr Schlaf verlangt. 1894 war das Jahr, in dem der Italiener Marconi die ersten Funkwellen ausstrahlte. Glühlampen erhellten das Gesicht der Städte und machten die Nacht zum Tage. 100 Jahre später hielten Videospiele Einzug in die Kinderzimmer, das Internet wurde geboren. Bis heute raten Ärzte jungen Eltern, ihre Kinder vor dem Schlafengehen vom Fernseher und vom Computer fernzuhalten.
Es sind die Lebensumstände, die sich ändern. Die Botschaft bleibt gleich. Schlafmangel wird seit jeher als Folge des modernen Lebens angesehen und ist eng mit dem technischen Fortschritt der Zeit ver- knüpft. Egal, wie viel Schlaf die Kinder in vergangenen Zeiten bekamen: Es wurde schon immer angenommen, dass längere Ruhezeiten notwendig sind und entsprechende Empfehlungen ausgesprochen – trotz mangelnder Beweise.
Ein tieferes Verständnis, wie es für die Effekte von Sport und Ernährung auf die Gesundheit existiert, besteht für den Schlaf bislang nicht. Die Erfahrung zeigt, dass Eltern nicht verkehrt handeln, wenn sie sich an die aktuellen Empfehlungen in der Flut entsprechender Erziehungsratgeber halten. Ob es ihnen gelingt, diese – mit Erfolg – durchzusetzen, ist etwas anderes. Denn nicht immer lässt der Nachwuchs einen frühen Feierabend zu. Der Schlafbedarf bleibt halt immer individuell.