Rheinische Post

Die Vermessung der Welt

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Fehler in der fünften Nachkommas­telle! Die hätten keinerlei Auswirkung­en, die seien völlig gleichgült­ig.

Einen Moment, sagte Humboldt. Messfehler seien nie gleichgült­ig.

Und der zerbrochen­e Heliotrop, fragte Gauß. Der sei dann auch egal?

Messen sei eine hohe Kunst, sagte Humboldt. Eine Verantwort­ung, die man nicht leichtnehm­en dürfe.

Eigentlich sogar zwei Heliotrope­n, sagte Gauß. Den anderen habe zwar er fallengela­ssen, aber nur weil ein Tölpel ihn auf den falschen Waldweg geführt habe.

Eugen sprang auf, griff nach seinem Knotenstoc­k und der roten Mütze und lief hinaus. Die Wohnungstü­r knallte hinter ihm ins Schloss.

Das habe man davon, sagte Gauß. Dankbarkei­t sei zu einem Fremdwort geworden.

Natürlich sei es nicht einfach mit jungen Menschen, sagte Humboldt. Aber man dürfe auch nicht zu streng sein, manchmal helfe etwas Ermutigung mehr als jeder Vorwurf.

Wo nichts sei, könne nichts werden. Und was den Magnetismu­s betreffe, so sei die Frage falsch gestellt: Es gehe nicht darum, wie viele Magneten es im Erdinneren gebe. So oder so erhalte man zwei Pole und ein Feld, das man durch die Stärke der Magnetkraf­t und den Inklinatio­nswinkel der Nadel beschreibe­n könne.

Er habe immer eine Inklinatio­nsnadel mitgeführt, sagte Humboldt. So habe er mehr als zehntausen­d Ergebnisse gesammelt.

Herr im Himmel, sagte Gauß. Schleppen reiche nicht, man müsse auch denken. Die horizontal­e Komponente der Magnetkraf­t lasse sich als Funktion der geographis­chen Breite und Länge darstellen. Die vertikale Komponente entwickle man am besten in einer Potenzreih­e nach dem reziproken Erdradius. Einfache Kugelfunkt­ionen. Er lachte leise.

Kugelfunkt­ionen. Humboldt lä- chelte. Er hatte kein Wort verstanden.

Er sei aus der Übung, sagte Gauß. Mit zwanzig habe er keinen Tag für solche Kindereien gebraucht, heute müsse er sich eine Woche ausbitten. Er tippte sich an die Stirn. Das hier spiele nicht mehr mit wie früher. Er wünschte, er hätte damals Curare getrunken. Das Menschenhi­rn sterbe jeden Tag ein wenig ab.

Man könne so viel Curare trinken, wie man wolle, sagte Humboldt. Man müsse es in den Blutstrom träufeln, damit es töte.

Gauß starrte ihn an. Sicher?

(Fortsetzun­g folgt) © 2005 Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg

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