Die Dienstags-frauen
Mit dreiundvierzig war Frido Mitglied der Geschäftsleitung einer Versicherung, stolzer Besitzer eines familienfreundlichen Eigenheims mit großzügigem Garten und komplett ahnungslos, was die täglichen Abläufe in seiner eigenen Familie anging. Aufmerksam blätterte er durch die seitenlangen handgeschriebenen Anweisungen, die Eva ihm in die Hand gedrückt hatte. „Montag hat David Tennis und Frido Ministrantendienst?“
Eva nickte nervös. Bloß keine Zweifel aufkommen lassen, beschwor sie sich selbst. Zehn Wandertage hatten sie eingeplant. Dazu Anund Abreise. So lange waren die Dienstagsfrauennochnieweggefahren.
„Schwierig wird nur der Freitag mit Lenes Elternsprechtag und vielleicht der Mittwoch.“
„Mittwoch? Das geht auf keinen Fall. Da habe ich Vorstandssitzung.“
Vorstandssitzung war bei Frido eine Art chronischer Zustand. Elternsprechtag, Kinderfahrdienste, Dekorieren im Tennisclub, gebrochene Arme, Beine, Kinderherzen: Seit Jahren hatte Frido grundsätzlich Vorstandssitzung, wenn es darum ging, familiäre Pflichten zu übernehmen. Dabei war er nicht einmal unwillig. Er war einfach nur beschäftigt. „Nimm dir eine Hilfe, Eva“, predigte Frido unablässig. Aber Eva hatte keine vier Kinder bekommen, nur um sie an ein rumänisches Au-pair abzuschieben.
„Das nennt man Arbeitsteilung“, verteidigte Eva sich eilig, wenn die Freundinnen mal wieder die Augenbrauen hochzogen.
„Das nennt man Sklaverei“, kommentierte Estelle trocken. Die verwöhnte Freundin war das klassische Beispiel der Frau, die immer zu viel in den Koffer einpackte und das Tragen anderen überließ. Estelle arbeitete nicht. Estelle delegierte. Ihre Aufgaben in der angeheirateten Apothekenkette, ihren Haushalt, ihr Leben. Bis hin zum Vibrator in der Schublade ihres Nachttischs, der ihren Mann an Ausdauer deutlich übertraf, wie Estelle gerne erwähnte. Eva hätte sich ein Beispiel an Estelle nehmen können. Aber so war Eva nicht. Sie probierte im Gegenteil, ihr brodelndes Schuldgefühl mit Aktionismus zu übertünchen.
„Essen habe ich fertig. Thailändische Fischsuppe, Schweinebraten, Nudeln mit drei Füllungen, vegetarisch für David, Käse für Lene, Hackfleisch für alle anderen.“
Sie öffnete die Kühlfächer, in der ein Heer von sorgfältig beschrifteten Tupperdosen des Einsatzes harrte. Frido betrachtete seine Tiefkühleinheit, als wäre sie mindestens das achte Weltwunder: staunend und ohne jedes Verständnis für die fremde Kultur. Keiner kam auf die Idee, dass Eva ein Kompliment für ihren familiären Dauereinsatz verdiente. Nicht einmal Eva selbst.
„Bist du dir sicher, dass du dir das antun willst?“, insistierte Frido.
„Nein, bin ich nicht“, hätte Eva fast geantwortet. Doch Anna, ihre Jüngste, mit der Eva ein ganz besonderes Band hatte, sprang ihr unerwartet bei: „Von mir aus darfst du pilgern, Mama. Mir macht es nichts aus, wenn ich die Einzige bin, die beim Mutter-Kind-Backen alleine bleibt. Ehrlich.“Zärtlich schlang die Neunjährige ihre Kinderarme um den Hals der Mutter.
Als Caroline Eva abholte, fühlte die vierfache Mutter sich tödlich erschöpft. Und das, noch bevor sie auch nur einen Zentimeter auf der Pilgerstrecke zurückgelegt hatte.
„Vielleicht kann ich den Flug umbuchen und nachkommen.“
„Eva, irgendwas ist immer. Davids Tennisturnier, das Konzert von Lene, Vorstandssitzung . . .“
„Mutter-Kind-Backen! Stell dir vor, was passiert, wenn Frido mitten in der Vorstandssitzung geht. Weil er in der Schule Marmorkuchen backen muss.“Eva klang aufrichtig verzweifelt. Carolines Mitleid hielt sich in Grenzen.
„Willst du die Wahrheit hören, Eva? Du hast deine Lieben in jahrelanger Arbeit so abgerichtet, dass sie nicht einmal die eigenen Socken erkennen.“
Eva wusste, dass Caroline recht hatte. Und trotzdem kam sie sich egoistisch vor.
„Frido wird das großartig machen, Eva. Er wird sich in der Servicewüste, die du hinterlässt, schon zurechtfinden.“„Wenn du meinst?“Caroline seufzte tief auf. Jedes Jahr dasselbe. Erst diskutierten die Dienstagsfrauen ewig, bevor sie sich auf einen Ort und ein Datum einigten. Und dann überlegten es sich Eva, Kiki und Judith wieder anders. „Zu viel zu tun.“„Ich schaffe es nicht wegzukommen.“„Tut mir leid.“Caroline kannte diese Texte auswendig. Es war immer eine Staatsaktion, bis es wirklich losgehen konnte. Wenn es denn losging.
Zuvor musste jedes Kind ausführlich geherzt und geküsst werden, dann der Mann, dann noch einmal die Kinder. Erst wenn die Familie am Gartentor Aufstellung nahm zum vereinten Winken, war der entscheidende Schritt geschafft. Caroline atmete durch. Eine der Dienstagsfrauen hatte sie im Auto. Jetzt noch die anderen drei.
Die Einzige außer Caroline, die sich nicht fragte, ob sie zu Hause bleiben sollte, war Estelle. „Pilgern ist das neue Schwarz“, erklärte sie ihrem Mann voll Überzeugung. „Soll ich die Einzige sein, die unerleuchtet bleibt?“Estelle hatte ein anderes Problem: Fünfundzwanzig Quadratmeter Kleiderschrank und nichts anzuziehen. Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatte, schritt sie umgehend zur Tat. Bei Estelle hieß das, sie rief jemanden an, der ihr die Aufgabe abnahm.
Zwei Stunden später fand sich ihr sortimentskundiger Personal Shopper, ihr Pi-Ess, im noblen Hahnwald ein. Estelle wohnte in einer Straße, in der es keine Häuser, sondern nur Anwesen gab. Die Einrichtung der Villa war so übertrieben wie Estelle. Ein bisschen schwülstig, ein bisschen überladen, ein bisschen zu viel Gold und Medusa. Sie stand nun mal auf Chichi: auf Statuen, Kordeln, Troddeln, Zierkissen und glänzende Versace-Muster auf Desserttellern und Bettdecken.
„Ich habe alles meinem Vater zu verdanken“, erklärte Estelle gerne. „Die Nase fürs Geld und den Sinn fürs Ausgeben.“Estelle hatte ihren Vater Willi vergöttert. Der Flüchtling aus Ostpreußen hatte nach dem Krieg als Schrotthändler ein Vermögen gemacht. Unter Lebensgefahr hatte er in der zerbombten Domstadt die in den Trümmerhaufen herumliegenden Eisenteile, Träger und Schienen aufgelesen, um sie der Wiederverwertung zuzuführen. Sammeln, identifizieren, sortieren, aufbereiten, das war sein Lebenscredo gewesen. Estelle erweiterte es um die Komponente: Zeig, was du hast. Was nutzte es, reich zu sein, wenn niemand es sah?