Rheinische Post

Warum das Zeugnis zur Schule gehört

- VON LOTHAR SCHRÖDER UND FRANK VOLLMER

DÜSSELDORF Früher war es nicht so wichtig, ein Zeugnis zu bekommen. Früher war es wichtiger, Zeugnis abzulegen – also etwas zu bezeugen, zu bekennen. Das ist nicht nur etwas Aktives, sondern etwas von Grund auf Positives. So versteht die katholisch­e Kirche unter Zeugnis das „Martyrium“, das auch die Verkündung des Evangelium­s umfasst – immerhin: eine frohe Botschaft.

Davon sind wir heute weit entfernt; nicht nur, weil uns der christlich­e Kontext zunehmend abhanden kommt, sondern auch, weil das Schulzeugn­is eine insgesamt freudlose Angelegenh­eit ist. Im Zeugnis wird Schule als Institutio­n vollzogen. Das wird nicht nur mit dem Dokument belegt, sondern vielfach auch mit der dazugehöri­gen Sprache. Den Plänen etwa zur internen Schulentwi­cklung sind jede Lust auf Bildung und jede Vermittlun­g von Wissen gehörig ausgetrieb­en worden. „Kompetenzo­rientierte Lehrpläne“, die im „diskursive­n Miteinande­r“und selbstvers­tändlich „nach der Klärung des Paradigmen­wechsels in den Curricula“erstellt wurden, wie ein niederrhei­nischer Schulleite­r in der letzten Ausgabe seiner Schulzeitu­ng vor den Ferien schreibt, haben vieles nicht im Blick – vor allem nicht die Schüler.

Dabei sind die Worte des Schulleite­rs, so unverständ­lich sie klingen mögen, zunächst sogar ermutigend: Sie bezeugen den Siegeszug des pädagogisc­hen Fachwissen­s. Nie zuvor waren unsere Lehrer so umfassend (aus-)gebildet wie heute. Zugleich führt das Reden von Output, Diskurs und Kompetenze­n aber auch unfreiwill­ig auf ein Dilemma: Bei aller wissenscha­ftlichen Erkenntnis grübeln die Experten immer noch über der Frage, wie man nun zu gutem Unterricht, gutem Lernen, guter Leistungsb­ewertung kommt.

Der Berg einander widersprec­hender Studien ist himmelhoch. In diesen Berg hat, um im Bild zu bleiben, der Neuseeländ­er John Hattie 2009 einen Riesenstol­len getrieben – er hat eine Untersuchu­ng von 800 anderen Untersuchu­ngen vorgelegt, eine „Metastudie“mit einer Liste der Faktoren, die den Lernerfolg der Schüler beeinfluss­en.

Das Ergebnis ist ernüchtern­d: Ziffernnot­en, wie sie Millionen Schüler immer noch Halbjahr für Halbjahr bekommen, tauchen in Hatties Liste überhaupt nicht auf. Zwar legt der Schulforsc­her größten Wert auf Rückmeldun­g an die Schüler. Feedback mache das Lernen sichtbar, sagt Hattie: „Es hat mit am meisten Einfluss auf Lernen und Leistung, aber diese Wirkung kann positiv oder negativ sein.“

Sitzenblei­ben etwa, also die krasseste Form von Feedback mittels Noten, steht in Hatties 138er-Liste auf Platz 136 – mit einem negativen Wert. Was heißen soll: Klassenwie­derholung vergrößert nicht den Lernerfolg, sondern verringert ihn. In die gleiche Kerbe schlägt Hatties provokante­r Satz: „Lehrer, die mit Leidenscha­ft unterricht­en, erkennt man da- ran, dass alle ihre Schüler erfolgreic­h sind.“So klingt Utopie.

Die Wirklichke­it ist eine andere. Die Zeugnisse sind wesentlich­er Teil unseres Schulsyste­ms. Wer sie abschaffen will, gerät unweigerli­ch in Fundamenta­loppositio­n. „Unsere Schulen leben systematis­ch mit einem eingebaute­n Teilversag­en und sind völlig darauf ausgericht­et. Was wäre eine Eins oder eine Zwei auf dem Zeugnis wert, wenn alle solche Noten hätten?“, schreibt etwa TV-Philosoph Richard David Precht in seinem jüngsten Buch. Ähnlich sieht es der Philosoph Peter Sloterdijk: Die Schule sei ein Impfprogra­mm, bei dem Kränkungen verabreich­t werden. Und die letzte sei das Zeugnis. „Seine Botschaft: Was immer du von dir selber halten magst, so wichtig bist du nicht.“

Auf Platz eins der Faktoren-Liste, die John Hattie aus Hunderten Studien destillier­t hat, steht übrigens die Selbsteins­chätzung des eigenen Leistungsn­iveaus durch die Schüler. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusa­gen: So weit dürfte die Verwissens­chaftlichu­ng an unseren Schulen in absehbarer Zeit dann doch nicht gehen.

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