Warum das Zeugnis zur Schule gehört
DÜSSELDORF Früher war es nicht so wichtig, ein Zeugnis zu bekommen. Früher war es wichtiger, Zeugnis abzulegen – also etwas zu bezeugen, zu bekennen. Das ist nicht nur etwas Aktives, sondern etwas von Grund auf Positives. So versteht die katholische Kirche unter Zeugnis das „Martyrium“, das auch die Verkündung des Evangeliums umfasst – immerhin: eine frohe Botschaft.
Davon sind wir heute weit entfernt; nicht nur, weil uns der christliche Kontext zunehmend abhanden kommt, sondern auch, weil das Schulzeugnis eine insgesamt freudlose Angelegenheit ist. Im Zeugnis wird Schule als Institution vollzogen. Das wird nicht nur mit dem Dokument belegt, sondern vielfach auch mit der dazugehörigen Sprache. Den Plänen etwa zur internen Schulentwicklung sind jede Lust auf Bildung und jede Vermittlung von Wissen gehörig ausgetrieben worden. „Kompetenzorientierte Lehrpläne“, die im „diskursiven Miteinander“und selbstverständlich „nach der Klärung des Paradigmenwechsels in den Curricula“erstellt wurden, wie ein niederrheinischer Schulleiter in der letzten Ausgabe seiner Schulzeitung vor den Ferien schreibt, haben vieles nicht im Blick – vor allem nicht die Schüler.
Dabei sind die Worte des Schulleiters, so unverständlich sie klingen mögen, zunächst sogar ermutigend: Sie bezeugen den Siegeszug des pädagogischen Fachwissens. Nie zuvor waren unsere Lehrer so umfassend (aus-)gebildet wie heute. Zugleich führt das Reden von Output, Diskurs und Kompetenzen aber auch unfreiwillig auf ein Dilemma: Bei aller wissenschaftlichen Erkenntnis grübeln die Experten immer noch über der Frage, wie man nun zu gutem Unterricht, gutem Lernen, guter Leistungsbewertung kommt.
Der Berg einander widersprechender Studien ist himmelhoch. In diesen Berg hat, um im Bild zu bleiben, der Neuseeländer John Hattie 2009 einen Riesenstollen getrieben – er hat eine Untersuchung von 800 anderen Untersuchungen vorgelegt, eine „Metastudie“mit einer Liste der Faktoren, die den Lernerfolg der Schüler beeinflussen.
Das Ergebnis ist ernüchternd: Ziffernnoten, wie sie Millionen Schüler immer noch Halbjahr für Halbjahr bekommen, tauchen in Hatties Liste überhaupt nicht auf. Zwar legt der Schulforscher größten Wert auf Rückmeldung an die Schüler. Feedback mache das Lernen sichtbar, sagt Hattie: „Es hat mit am meisten Einfluss auf Lernen und Leistung, aber diese Wirkung kann positiv oder negativ sein.“
Sitzenbleiben etwa, also die krasseste Form von Feedback mittels Noten, steht in Hatties 138er-Liste auf Platz 136 – mit einem negativen Wert. Was heißen soll: Klassenwiederholung vergrößert nicht den Lernerfolg, sondern verringert ihn. In die gleiche Kerbe schlägt Hatties provokanter Satz: „Lehrer, die mit Leidenschaft unterrichten, erkennt man da- ran, dass alle ihre Schüler erfolgreich sind.“So klingt Utopie.
Die Wirklichkeit ist eine andere. Die Zeugnisse sind wesentlicher Teil unseres Schulsystems. Wer sie abschaffen will, gerät unweigerlich in Fundamentalopposition. „Unsere Schulen leben systematisch mit einem eingebauten Teilversagen und sind völlig darauf ausgerichtet. Was wäre eine Eins oder eine Zwei auf dem Zeugnis wert, wenn alle solche Noten hätten?“, schreibt etwa TV-Philosoph Richard David Precht in seinem jüngsten Buch. Ähnlich sieht es der Philosoph Peter Sloterdijk: Die Schule sei ein Impfprogramm, bei dem Kränkungen verabreicht werden. Und die letzte sei das Zeugnis. „Seine Botschaft: Was immer du von dir selber halten magst, so wichtig bist du nicht.“
Auf Platz eins der Faktoren-Liste, die John Hattie aus Hunderten Studien destilliert hat, steht übrigens die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus durch die Schüler. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen: So weit dürfte die Verwissenschaftlichung an unseren Schulen in absehbarer Zeit dann doch nicht gehen.