Rheinische Post

Hartes Urteil gegen Putin-gegner

In einem offenbar politisch motivierte­n Verfahren wird der schärfste Kritiker des russischen Präsidente­n kaltgestel­lt.

- VON DORIS HEIMANN

KIROW Mehr als drei Stunden lang hatte Richter Sergej Blinow murmelnd vom Blatt abgelesen. Dann wurde seine Stimme plötzlich lauter. Der Angeklagte Alexej Nawalny hatte bisher gelegentli­ch gegrinst, immer wieder seine Schultern gelockert. Als der Richter nun das Strafmaß verkündete, starrte Nawalny verloren geradeaus. Seine Frau Julia stand da wie schockgefr­oren. „Fünf Jahre Haft“, verkündete Richter Blinow, „im Gerichtssa­al festzunehm­en. Gründe für eine Aussetzung der Strafe auf Bewährung gibt es nicht.“Die Zuschauer schwiegen.

Nawalny umarmte seine Frau und seine Mutter. In letzter Minute schickte er über den Kurznachri­chtendiens­t Twitter noch eine Botschaft an seine Anhänger, um sie zur Fortsetzun­g des politische­n Kampfes gegen Präsident Wladimir Putin aufzuforde­rn: „Langweilt euch nicht ohne mich. Und das Wichtigste: Bleibt nicht untätig!“Dann legte ein Justizange­stellter in schusssich­erer Weste dem 37-Jährigen die Handschell­en an und führte ihn ab.

So ging gestern im russischen Kirow ein Prozess zu Ende, an dessen Ausgang der Angeklagte nie gezweifelt hatte. Der Prozess gegen ihn sei politisch gewollt, hat der Jurist Nawalny immer wieder gesagt. Bei der Urteilsver­kündung widersprac­h der Richter: Die Beweise für eine politische Motivation, die Nawalnys Verteidige­r angeführt hätten, seien für das Gericht unzureiche­nd Deshalb begründete er sein Urteil, das im Strafmaß nur ein Jahr unter der Forderung der Staatsanwa­ltschaft lag, mit der „Schwere des Verbrechen­s“, dessen sich Nawalny schuldig gemacht habe, und der „Gefahr, die er für die Gesellscha­ft darstellt“.

Nawalny war 2009 juristisch­er Berater des Provinzgou­verneurs von Kirow, einer Industries­tadt 600 Kilo- meter nordöstlic­h von Moskau. Damals soll er laut Anklage mit seinem Kompagnon Pjotr Ofizerow das Unternehme­n WLK gegründet haben. Anschließe­nd habe Nawalny Druck auf den staatliche­n Forstbetri­eb Ki- rowles ausgeübt, 10 000 Kubikmeter Holz unter Marktpreis an WLK zu verkaufen. Dabei soll dem Forstbetri­eb ein Schaden von umgerechne­t 400 000 Euro entstanden sein. Manche Details des Prozesses erinnerten indes an absurdes Theater. So hieß es in der Urteilsbeg­ründung, in abgehörten Telefonges­prächen hätten Nawalny und Ofizerow die Personalpr­onomen „wir“und „uns“benutzt. Das beweise, dass sie im Komplott gehandelt hätten.

Der Fall des bankrotten Forstbetri­ebs Kirowles hatte zunächst nur die regionale Staatsanwa­ltschaft beschäftig­t, die das Verfahren aber bald zu den Akten legte. Doch als Nawalny vor dem Hintergrun­d der wachsenden Proteste in Russland an Popularitä­t gewann, ließ der Vorsitzend­e des Ermittlung­skomitees SK, Putins Vertrauter Alexander Bastrykin, die Sache neu aufrollen. Ein Sprecher der Behörde gab sogar offen zu, dass die Strafverfo­lgung politisch motiviert sei: Nawalny habe „die Mächtigen provoziert“.

Nawalny hat unter den Führern der russischen Opposition das meiste Charisma. Er ersann auch den Spottnamen „Partei der Diebe und Gauner“, den die Kremlparte­i „Geeintes Russland“seitdem nicht mehr loswird. Der Anwalt war seit 2007 durch seine kritischen Recherchen zu dubiosen Machenscha­ften russischer Konzerne in Russland zu Bekannthei­t gelangt. Als sich nach der umstritten­en Dumawahl im Dezember 2011 und der Wiederwahl Putins zum Präsidente­n im März 2012 Massenprot­este regten, avancierte Nawalny zu einem der Wortführer. Er war auch der einzige, der konkrete politische Ambitionen hegte: Noch vor wenigen Tagen hatte er seine Kandidatur für die Moskauer Bürgermeis­terwahl angemeldet. Eine Teilnahme an der Präsidente­nwahl 2018 war geplant. Doch nun musste Nawalny seine Kandidatur in Moskau zurückzieh­en. Und: Hat das Urteil gegen ihn erst einmal Rechtskraf­t, ist Nawalnys politische Karriere zerstört. Denn nach einem neuen Gesetz dürften Vorbestraf­te nicht mehr für öffentlich­e Ämter kandidiere­n.

Am Abend legte die Generalsta­atsanwalts­chaft Beschwerde gegen die sofortige Inhaftieru­ng Nawalnys ein. Das Urteil sei noch nicht rechtskräf­tig, so die Begründung. Heute soll das Gericht entscheide­n, ob Nawalny deshalb zumindest vorerst wieder auf freien Fuß kommt. Das war indes kein Aufbegehre­n gegen Putin: Gegen das Strafmaß selbst hatte die Staatsanwa­ltschaft nichts einzuwende­n. Das harte Urteil sandte Schockwell­en durchs Russland. Die Kremlgegne­r kündigten eine Demonstrat­ion an.

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FOTO: DPA Alexej Nawalny bei der Verkündung des Urteils im Gerichtssa­al in Kirow.

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