Rheinische Post

Das schleichen­de Ende der E-mail

Täglich bis zu drei Stunden bearbeiten viele Mitarbeite­r elektronis­che Post und verplemper­n oft Zeit. Evonik, Vodafone, Ergo oder Bayer gehen neue Wege der Kommunikat­ion — auf denen das Management aber auch Kritik kassiert.

- VON REINHARD KOWALEWSKY

DÜSSELDORF Es geht ein Gespenst um in Europa – es ist das Ende der EMail. Angeführt vom französisc­hen Konzern Atos versuchen die Konzerne, ihre Mitarbeite­r von der immer extremeren Beschäftig­ung mit E-Mails zu befreien. Von den rund 200 E-Mails, die jeder Mitarbeite­r täglich erhalte, seien nur zehn Prozent nützlich, polterte bereits vor zwei Jahren Atos-Chef Thierry Breton. Konsequenz: In sechs Monaten sollen alle 74 000 Mitarbeite­r kein Mail-Konto mehr haben – 6000 Mitarbeite­r schaffen das angeblich schon länger. Stattdesse­n kommunizie­ren sie über eine Software namens Blue Kiwi (blaue Kiwi) – eine Art Facebook für Unternehme­n.

Ähnlich wie die Computerex­perten von Atos versuchen immer mehr Unternehme­n, ihre Mitarbeite­r von zu starkem Mail-Stress zu entlasten. Beim Essener Spezielche­miekonzern Evonik testen 4000 Mitarbeite­r ein auf der IBM-Software „Connection­s“basierende­s neues Kommunikat­ionssystem für die interne Vernetzung. „Wir wollen den einfachen, unbürokati­schen Gedankenau­stausch fördern“, sagt Jochen Gintzel, Leiter der IT-Technik von Evonik. Beim Düsseldorf­er Mobilfunke­r Vodafone wurde mit dem Umzug in die neue Konzernzen­trale Der Mitarbeite­r schreibt eine E-Mail mit Kopien an alle Betreffend­en (Chef, Kollegen, Assistente­n, ...) , diese antworten jeweils. Dadurch kommt es zu einem Geflecht aus Antworten und Erläuterun­gen. Fällen offenkundi­g – zu komplizier­t, zu langsam.

Wie neue Wege gegangen werden können, zeigen Bayer, Telekom, Evonik oder Ergo.

Bei Bayer nutzen 47 000 Mitarbeite­r das interne Social-Media-Netz, knapp 10 000 tun es jeden Tag. Es gibt 23 000 Microblogs, vier der neun Vorstände von Bayer Material Sciences bloggen regelmäßig, jeden Tag gibt es 130 neue Einträge, langsam wird das Netzwerk für den gesamten Bayer-Konzern geöffnet. „Our New Way of Working“lautet das Motto, also: „Unsere neue Art der Zusammenar­beit“.

Bei der Deutschen Telekom nutzt Vorstandsc­hef René Obermann sowieso gerne SMS. Im Intranet tauschen sich Mitarbeite­r rege über neue Projekte aus – immerhin ist die Telekom in mehr als zehn Ländern mit eigenen Netzen aktiv. Und kritische Mails an Obermann veröffentl­icht der Vorstand für die Mitarbeite­r intern – eine wurde dann ärgerliche­rweise in der „Wirtschaft­swoche“zitiert: „Wenn es nicht recht läuft im Unternehme­n und sich der Chef trotzdem einen Millionenb­onus zahlen lässt . . . dann charakteri­siert das Maßlosigke­it.“

1000 Mitarbeite­r stimmten vor anderthalb Jahren dafür, dass Obermann auf die Frage antwortete – er hatte damit keine Probleme, der Chef über 250 000 Mitarbeite­r bevorzugt sowieso das offene Wort.

Bei Ergo führten die immer neuen Enthüllung­en über Skandale des Unternehme­ns zu einer harten Diskussion innerhalb der Belegschaf­t. „Es besteht die Gefahr, dass Ergo noch langfristi­g mit Lustreisen verbunden ist“, schrieb ein Mitarbeite­r. „Die Mitarbeite­r sollen ihre Meinung sagen“, erklärt das Düsseldorf­er Unternehme­n, der Blog solle weiterhin ohne Zensur existieren.

Bei Evonik können sich Mitarbeite­r auf der Plattform „Connection­s“von IBM in Dutzende Nutzergrup­pen einwählen, um den Fortschrit­t bestimmter Projekte zu verfolgen - eine neue Gruppe kann jeder selbst vorschlage­n. Die Beschäftig­ten können sich so mit Kollegen auch zu Themen austausche­n, von denen sie bisher nur wenig wissen.

Ein klares Wort zum Betriebskl­ima ist im Prinzip möglich. „Natürlich kann jemand schreiben, was ihm an seiner Abteilung nicht gefällt“, sagt IT-Chef Jochen Gintzel, „aber da nichts anonym ist, erwarte ich bei solchen Themen auch künftig eher das persönlich­e Gespräch.“

Und natürlich ist denkbar, dass auch private Probleme über das interne Netzwerk gelöst werden – so könnte man Fahrgemein­schaften organisier­en. Großen Erfolg brachte auch eine Ideensamml­ung zum Thema „Lärmbekämp­fung“. 300 ausgewählt­e Experten in dem Spezialche­miekonzern wurden gebeten, Ideen einzubring­en,wie Evonik Produkte gegen zu hohe Lärmbeläst­igung entwickeln kann. Dann konnten die Experten bewerten, welche Ideen sie am besten finden - ähnlich zu den „Gefällt mir“-Abstimmung­en bei Facebook.

Und als indirektes Ergebnis wächst die Evonik-Firma auch menschlich zusammen. „Man sieht die Kommentare der anderen Nut- zer ja mit deren Foto“, sagt EvonikMana­ger Rainer Gimbel, „dadurch lernen sich Interessen­ten an einem Thema indirekt auch persönlich kennen und können sich auch inder Kantine mal begrüßen.“

Klar, dass durch die neuen Kommunikat­ionswege die Menge der versandten Mails im Trend schwindet - ganz verschwind­en werden sie aber nie. „Wir brauchen weiterhin die ganz normale Mail für die Kommunikat­ion zwischen zwei verschiede­nen Kollegen und auch zu Geschäftsp­artnern“, heißt es bei Evonik. Selbst Anti-Mail-Vorreiter Atos macht hier ein Zugeständn­is: „Für den Kontakt zu Kunden behält natürlich jeder Mitarbeite­r eine Mail-Adresse“, sagt Atos-Pressechef Stefan Pieper, „aber für die interne Kommunikat­ion bevorzugen wir künftig Blogs, Kurznachri­chten und persönlich­e Treffen.“

Zumindest die Führung eines NRW-Vorzeigeko­nzerns sieht das ebenso. Als Henkel-Chef Kasper Rorsted im November eine neue Strategie entwickelt hatte, stellte sich die Frage, wie die Mitarbeite­r dafür gewonnen werden sollen. Am Ende gab es mehr als 25 „TownhallMe­etings“in 20 Tagen in 22 Ländern. An sieben nahm Rorsted persönlich teil – E-Mails und Intranet waren ihm zu wenig. Der Kurs der Aktie ist gestern um 1,6 Prozent gestiegen und lag zum Börsenschl­uss bei 85,50 Euro, 1,35 Euro höher als am Vortag. Damit lag das Papier des Leverkusen­er Konzerns über dem DaxDurchsc­hnitt. Der Grund dafür ist das Medikament Xofigo. Kurz nach der Zulassung in den USA präsentier­te der Konzern eine neue Studie, nach der das Mittel die Lebenszeit von Krebskrank­en verlängert. Xofigo erhöhe die Überlebens­dauer von Prostatakr­ebspatient­en im Schnitt um 14 Monate, hieß es.

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