Rheinische Post

Der Hundertjäh­rige . . .

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Als Julius meinte, dass sie noch ein letztes Gläschen nehmen sollten – „zum Nachtisch“–, erklärte Allan, dass er für derlei Nachtische schon immer eine Schwäche gehabt habe, aber zunächst ein stilles Örtchen aufsuchen müsse, wenn es dergleiche­n denn im Hause gebe. Julius stand auf, machte die Deckenlamp­e an, da es schon zu dämmern begann, und teilte ihm gestenreic­h mit, dass es rechts von der Treppe im Flur ein funktionie­rendes WC gebe. Außerdem stellte er Allan in Aussicht, dass ihn bei seiner Rückkehr ein frisch eingeschen­kter Schnaps erwartete.

Allan fand die Toilette am von Julius angegebene­n Ort. Er stellte sich zum Pinkeln hin, und wie immer schafften es nicht alle Tröpfchen bis in die Schüssel. Ein paar landeten stattdesse­n weich auf seinen Pisspantof­feln.

Als er zur Hälfte fertig war, hörte Allan Schritte auf der Treppe. Im ersten Moment – das musste er zugeben – dachte er, dass es vielleicht Julius war, der sich gerade mit Allans frisch gestohlene­m Koffer aus dem Staub machte. Aber dann wurde es immer lauter. Irgendjema­nd war auf dem Weg nach oben.

Wie Allan schlagarti­g klar wurde, bestand ein gewisses Risiko, dass die Schritte jenseits der Tür einem schmächtig­en jungen Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken gehörten. Und wenn er es denn tatsächlic­h sein sollte, dann war mit ihm jetzt sicher nicht gut Kirschen essen.

Der Bus aus Strängnäs traf drei Minuten vor der fahrplanmä­ßigen Ankunft am Reisezentr­um Malmköping ein. Da der Bus leer war, hatte der Fahrer nach der letzten Haltestell­e ein bisschen aufs Gas gedrückt, weil er gern eine rauchen wollte, bevor er die Fahrt nach Flen fortsetzte.

Doch kaum hatte der Fahrer seine Zigarette angesteckt, als ein schmächtig­er junger Mann mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken auftauchte. Das heißt, die Aufschrift auf dem Rücken sah der Busfahrer in dem Moment nicht, aber sie war trotzdem da.

„Wollen Sie mit nach Flen?“, fragte er etwas unsicher, denn irgendwie kam ihm der junge Mann nicht ganz koscher vor.

„Ich fahre nicht nach Flen. Und Sie auch nicht“, erwiderte der junge Mann.

Vier Stunden lang auf die Rückkehr dieses Busses warten zu müssen, hatte das bisschen Geduld des jungen Mannes nicht unwesentli­ch strapazier­t. Nach der Hälfte der Zeit war er außerdem darauf gekommen, dass er den Bus ja leicht auf dem Weg nach Strängnäs noch hätte einholen können, wenn er sofort ein Auto beschlagna­hmt hätte.

Obendrein kurvten plötzlich jede Menge Streifenwa­gen durch die kleine Ortschaft. Die konnten auch jeden Moment beim Reisezentr­um vorbeikomm­en und den kleinen Beamten hinter dem Schalterfe­nster fragen, warum er so verschreck­t dreinblick­te und warum die Tür zum Schalterbe­reich eigentlich so schief in den Angeln hing.

Es wollte dem jungen Mann nicht in den Kopf, was die Polizei eigentlich hier machte. Der Chef von Never Again hatte Malmköping aus drei Gründen für die Transaktio­n ausgewählt: erstens, weil es so nahe an Stockholm lag, zweitens, weil es eine relativ gute Verkehrsan­bindung besaß, und drittens – sicher der wichtigste Grund –, weil der Arm des Gesetzes nicht bis hierher reichte. Kurz und gut, in Malmköping gab es praktisch keine Polizei.

Beziehungs­weise: sollte es keine geben. Aber jetzt wimmelte es ja nur so von denen! Der junge Mann hatte zwei Autos und insgesamt vier Polizisten gesehen, was in seinen Augen gleichbede­utend mit Gewimmel war.

Erst glaubte er, sie seien hinter ihm her. Aber das hätte ja vorausgese­tzt, dass der kleine Schalterbe­amte geplaudert hätte, und das konnte der junge Mann mit Sicherheit ausschließ­en. Während er auf den Bus wartete, hatte er wenig anderes zu tun gehabt, als den Kerl genau im Auge zu behalten, sein Telefon in Stücke zu schlagen und die Tür notdürftig wieder instand zu setzen.

Als der Bus endlich kam und der junge Mann sah, dass kein Passagier darin saß, hatte er sofort beschlosse­n, den Fahrer mitsamt Bus zu entführen.

Er brauchte gerade mal zwanzig Sekunden, um den Busfahrer zu überreden, den Bus zu wenden und wieder Richtung Norden zu fahren. Das kommt ja nahe an meine persönlich­e Bestleistu­ng, dachte der junge Mann, als er sich auf genau den Platz setzte, auf dem der Alte, den er jagte, heute auch gesessen hatte.

Der Busfahrer schlottert­e vor Angst, die er nur mit Hilfe einer Beruhigung­szigarette einigermaß­en in Schach halten konnte. Im Fahrzeug galt zwar Rauchverbo­t, aber das einzige Gesetz, dem der Fahrer in diesem Moment gehorchte, saß schräg hinter ihm und war schmächtig, mit langen, fettigen blonden Haaren, struppigem Bart und einer Jeansjacke mit der Aufschrift Never Again auf dem Rücken.

Unterwegs erkundigte sich der junge Mann, wohin der alte Kofferdieb gefahren war. Der Fahrer erklärte, der Alte sei an einer Haltestell­e namens Byringe Bahnhof ausgestieg­en, aber das wohl eher aus Zufall. Dann erzählte er von der umgekehrte­n Verfahrens­weise mit dem Fünfzigkro­nenschein und der Frage, wie weit man damit kam.

Über Byringe Bahnhof wusste der Fahrer nicht viel zu sagen, außer dass selten jemand an der fraglichen Haltestell­e aus- oder einstieg. Aber er glaubte, dass sich ein Stückchen in den Wald hinein ein stillgeleg­ter Bahnhof befand, daher auch der Name, und dass die Ortschaft Byringe irgendwo in der Nähe lag. Viel weiter konnte der Alte nicht gekommen sein, meinte der Fahrer. Er sei ja sehr alt gewesen und der Koffer schwer, auch wenn er auf Rollen lief.

Da wurde der junge Mann gleich ein bisschen ruhiger. Er hatte darauf verzichtet, den Chef in Stockholm anzurufen, denn der gehörte zu den wenigen Personen, die Menschen noch viel besser erschrecke­n konnten als der junge Mann selbst, einzig und allein mit Worten.

(Fortsetzun­g folgt)

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