Die Mauerbauer von Budapest
Überschattet von den Flüchtlingsströmen an den Grenzen Italiens, Frankreichs und der Schweiz entwickelt sich auch Mittelosteuropa zu einem Brennpunkt der Asylpolitik. Dafür sorgt vor allem Ungarns Premierminister Viktor Orbán.
BUDAPEST Erst schockierte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán Europa mit der Ankündigung, an Serbiens Grenze einen Metallzaun aufzurichten – und weckte damit Erinnerungen an den Eisernen Vorhang. Am Mittwoch folgte der nächste Paukenschlag: Ungarn werde bis auf Weiteres keine Flüchtlinge zurücknehmen, die in andere EU-Länder weitergereist sind. Auf dem EU-Gipfel gestern in Brüssel lehnte Orbán dann den Plan ab, zur Entlastung Italiens und Griechenlands 40 000 Flüchtlinge umzuverteilen: „Wir sind nicht herzlos, aber auch nicht hirnlos.“
Die EU spricht von einem offenen Bruch des Dublin-III-Vertrags von 2013 durch Ungarn und forderte eine Erklärung. Dass Brüssel nicht sogleich die Rücknahme der ungarischen Entscheidung forderte, dürfte wohl Ratlosigkeit geschuldet sein. Zwar schien Außenminister Péter Szijjártó zurückzurudern: Man werde alle Missverständnisse ausräumen, „Ungarn erfüllt alle Verpflichtungen“. Doch das ist angesichts der heftigen Reaktion der EU-Kommission und einiger Nachbarländer lediglich Beschwichtigungsrhetorik. Denn die Suspendierung der Dublin-Verordnung bleibt, da Szijjártó nachdrücklich bestätigt, dass Ungarn zurückgeschickte Flüchtlinge „aus technischen Gründen“nicht mehr aufnehmen werde. Für die ist das sogar eine gute Nachricht, denn die Versorgung ist in Ungarn menschenunwürdig.
Ungarn ist allein wegen seiner geografischen Lage einer der Brennpunkte der europäischen Asylpolitik geworden. Immer mehr Flüchtlinge strömen über die Asien- und Balkanroute ins Land. Aber wenn die Buda- pester Regierung behauptet, das Boot sei voll, so liegt dies hauptsächlich daran, dass die Infrastruktur zur Versorgung absichtlich vernachlässigt wird. So sind laut EU-Statistik im ersten Quartal 2015 gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres die Asylanträge um das 15-Fache auf 32 810 gestiegen, die Zahl der Aufnahmeplätze blieb aber mit 2500 gleich.
Entlarvend ist auch die offizielle Sprachregelung: Für die Regierung Orbán gibt es keine Flüchtlinge, sondern nur „Einwanderer“, denen pauschal illegale Grenzverletzung unterstellt wird und daher das Recht auf Asyl verweigert werden kann. Dabei hat Ungarn praktisch gar kein Migrantenproblem: Von 42000 einge- reisten Ausländern – in erster Linie Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak – sind im Vorjahr 455 im Land geblieben, die meisten zogen weiter nach Österreich, Deutschland und Schweden. Die Regierung Orbán lehnt auch die von der Brüsseler Kommission geplante Aufnahmequote ab, wird aber dabei von den EU-Nachbarn Tschechien, Slowakei und Polen unterstützt, die als Ziel- oder Transitländer kaum eine Rolle spielen.
Orbán ist an einer gesamteuropäischen Asylpolitik gar nicht interessiert, für ihn sind populistische Alleingänge viel nützlicher. So kann er sich als starker Führer präsentieren. Von der Hetzpropaganda der neonazistischen Oppositionspartei Jobbik massiv unter Druck gesetzt, fürchtet er nichts mehr, als die Kontrolle über die Asylpolitik zu verlieren. Dafür nimmt er selbst Vertragsbrüche und die Selbstisolierung Ungarns in Kauf.
Das bislang gute Verhältnis Österreichs zu Ungarn war seit der demokratischen Wende 1989 selten so angespannt wie jetzt. Wien droht Budapest mit einem Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, Ungarns Botschafter in Wien wurde ins Außenministerium zitiert. Die einseitige Suspendierung des Dublin-Abkommens droht die Asylproblematik in Österreich drastisch zu verschärfen: So hat die Wiener Regierung erst jüngst beschlossen, die sogenannten Dublin-Fälle bevorzugt und zügig abzuarbeiten, um so Quartiere für Neuankömmlinge zu schaffen. Ungarn droht den Plan zu durchkreuzen. Laut offiziellen Angaben Wiens sind von rund 20 000 Asylanträgen in den ersten fünf Monaten dieses Jahres rund ein Viertel, also 5000, Dublin-Fälle, für die Ungarn zuständig sei. Insgesamt rechnet Österreich in diesem Jahr mit 70 000 Anträgen.
Eine Quotenregelung ist unter den Europäern offenbar nicht durchzusetzen – nicht nur Ungarn leistet Widerstand dagegen. Vor allem die osteuropäischen Regierungen wollten gestern nach Angaben von Diplomaten verhindern, dass der EU-Gipfel eine verbindliche Verteilung von Flüchtlingen auf alle Mitgliedstaaten beschließt. „Es gibt eine Absprache der Regierungen, dies zu verhindern“, sagte ein Diplomat aus einem osteuropäischen EU-Staat der Nachrichtenagentur Reuters: „Die entsprechende Formulierung im Entwurf für die Gipfelerklärung muss verändert werden.“