Rheinische Post

Erste Schule ohne Noten

Die Europaschu­le in Rheinberg verzichtet bis zur Klasse acht auf Schulzensu­ren.

- VON UWE PLIEN Schulleite­r

RHEINBERG Sehr gut, gut, befriedige­nd, ausreichen­d, mangelhaft, ungenügend: Diese althergebr­achte Notenskala ist Schnee von gestern. Jedenfalls an der Europaschu­le in Rheinberg im Kreis Wesel. Diese Gemeinscha­ftsschule ist die einzige von rund 1600 Schulen im Regierungs­bezirk Düsseldorf, deren Schüler keine Zeugnisse mit klassische­n Ziffern-Noten mehr bekommen. Die 650 Jungen und Mädchen gehen heute mit vier Seiten umfassende­n Lernstands­berichten in die Sommerferi­en. Dabei handelt es sich um sehr differenzi­erte, individuel­le Bewertunge­n der einzelnen Schüler.

Die Rheinberge­r Schule ist eine von zehn Gemeinscha­ftsschulen in NRW. Ein echter Exot ist sie, weil sie auch eine gymnasiale Oberstufe im G9-Verfahren bekommt. Der Gesamtschu­le sehr verwandt, spielt das längere gemeinsame Lernen dort eine große Rolle. „Wir sind in einem Schulversu­ch“, beschreibt Direktor Norbert Giesen. „Und da ist der Verzicht auf Ziffern-Noten bis einschließ­lich Jahrgangss­tufe acht vorgesehen.“Die erste Jahrgangss­tufe neun der 2011 an den Start gegangenen Europaschu­le beginnt mit dem neuen Schuljahr.

„Lernstands­berichte gab es bei uns bisher schon als Ergänzung zum normalen Zeugnis“, beschreibt Giesen. „Das ist jetzt anders. Unser Ziel ist es, durch den Verzicht auf Noten angstfreie­s Lernen zu ermögliche­n.“Außerdem könne das Kollegium nun Stärken und Schwächen der Schüler besser darstellen. „Das funktionie­rt sehr leistungso­rientiert.“

Wie die Leistung der Schüler beurteilt wird, zeigt ein Beispiel aus einem Lernstands­bericht der Klasse acht für das Fach Englisch: Statt einer Note sind dort neun sehr spezielle Rubriken wie „Du kannst den Aufbau einer Argumentat­ion erkennen und erläutern“oder „Du liest Texte sinnentneh­mend“aufgeführt. Jede dieser Rubriken wird nach einer der vier folgenden Kategorien bewertet: „Darin bist du sicher“, „Gelingt dir recht gut“, „Darin bist du unsicher“und „Gelingt dir noch nicht“. „Mit diesem Verfahren können wir den Leistungss­tand viel genauer abbilden und bewerten“, betont Schulleite­r Giesen. Zusätzlich gibt es viermal pro Jahr Lernentwic­klungsgesp­räche mit Lehrer, Eltern und dem Schüler, bei dem Zielverein­barungen festgelegt werden.

Das höre sich viel schlimmer an, als es ist, sagt die 14-jährige Neele Dietz, die die achte Klasse besucht. „Man weiß einfach viel besser, wo man steht und kann sich besser einordnen“, erzählt das Mädchen. Dass dieses Verfahren von Schülern anderer Schulen mitunter belächelt werde, sei ihr egal. Ihren Eltern ebenfalls. „Die haben sich vorher damit beschäftig­t und fanden das Konzept von Anfang an gut.“Direktor Giesen bestätigt das: „Die Eltern erkennen sehr schnell, dass dieses Verfahren viele Vorteile hat.“

Eine Schule ohne Noten – das hat allerdings seinen Preis. „Der Zeitaufwan­d für die Zeugniskon­ferenzen ist jetzt deutlich höher als früher“, sagt Giesen. Und die Lehrer könnten es sich nicht mehr erlauben, sich nur in Fächern wie Mathe, Deutsch oder Englisch mit jedem Kind intensiv zu befassen.

An der Europaschu­le ist vieles anders als an anderen Lerneinric­htungen. So sind alle Parallelkl­assen eines Jahrgangs stets auf dem gleichen Stand, weil immer zwei Lehrer den Unterricht für ein Fach gemeinsam für die komplette Stufe vorbereite­n. Und Arbeiten – in Rheinberg spricht man von „Kompetenzü­berprüfung­en“(KÜ) – schreiben die Parallelkl­assen alle zur gleichen Zeit.

Diese pädagogisc­hen Neuerungen werden wissenscha­ftlich be-

Norbert Giesen gleitet von der Technische­n Universitä­t Dortmund, und natürlich müssen beide, Uni und Schule, dem NRW-Schulminis­terium Bericht erstatten.

Norbert Giesen ist überzeugt von der Schule ohne Noten: „Wir wollen den Schülern einen Schonraum geben und gleichzeit­ig ihre Talente entdecken und fördern. Denn die besondere individuel­le Förderung etwa in der Ferienschu­le sorgt für die Beseitigun­g der festgestel­lten Mängel.“Den Rheinberge­r Europaschü­lern dürfte neben der innovative­n Bewertung noch etwas anderes gefallen. Norbert Giesen: „An unserer Schule kann man nicht sitzenblei­ben.“Denn in der Ferienschu­le – eine schulinter­ne Nachhilfe – werden die Defizite bis zum Start des neuen Schuljahrs aufgeholt.

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