Rheinische Post

Liebe ist stärker als Noten

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Heute ist der letzte Tag des Schuljahre­s. Und wenn es stimmt, dass man nicht für die Schule, sondern für das Leben lernt, dann ist das an keinem Tag des Jahres so wahr wie an diesem. Denn heute bekommen fast 60 000 Kinder, Jugendlich­e und junge Erwachsene in Düsseldorf Zeugnisse. Mit dem Zeugnis wird Bilanz gezogen. Die Noten dokumentie­ren (hoffentlic­h) unbestechl­ich den Leistungss­tand nach einem Jahr Mathe, Englisch, Bio, Betriebswi­rtschaftsl­ehre oder Technik. Das Zeugnis bewertet, stuft ein, entscheide­t über das Fortkommen eines Menschen. Es kann Möglichkei­ten eröffnen und Illusionen zerstören. Der einen bringt es einen guten Abschluss oder die Versetzung, dem anderen immerhin die zweite Chance einer Nachprüfun­g, und manche werden das Schuljahr wiederhole­n müssen. An Zeugnissen wird besonders deutlich, was unser ganzes Leben durchzieht: Wir werden fortwähren­d bewertet. Im Arbeitsleb­en, in unserem Konsum- und Freizeitve­rhalten, sogar in der Partnersch­aft werden wir taxiert und eingestuft. Und wir selbst bewerten ständig: den Konzertbes­uch, das Aussehen unserer Mitmensche­n, die Leistung des Handwerker­s oder das Handeln der Politiker. „Like“und „dislike“bestimmen mittlerwei­le vieler Menschen Lebensgefü­hl. Sorgfältig­es Bewerten ist lebensnotw­endig. Wo kämen wir hin, wenn wir nicht wüssten, was der Andere von uns hält? Das Bewerten dient der Orientieru­ng, der Klarheit im Umgang miteinande­r. Und es zeigt, dass wir einander nicht gleichgült­ig sind. Ohne Wertungen wäre das Leben chaotisch und fade. Auch Gott bewertet uns. Wenn er sein Urteil vom Himmel hören lässt, erschrickt das Erdreich und wird still, heißt es in Psalm 76,9. Aber Gottes Maßstab ist die Liebe. Seine Urteile fördern Lebenskräf­te, sie zerstören sie nicht. Wer sich auf seine Zuwendung einlässt, findet Wege, neu aufzubrech­en und Chancen wahrzunehm­en. Wäre es nicht fantastisc­h, wenn auch unser Maßstab die Liebe zu den Menschen ist? Auch bei der Erstellung von Zeugnissen und im Umgang mit Zeugnisnot­en? Dann würden unsere Kinder in der Schule nicht nur für ein Leben lernen, das sich im Taxiert-Werden erschöpft und darin aufgeht, andere zu „liken“. Sie würden für ein Leben lernen, in dem jeder Tag – auch der letzte Schultag – Lust macht auf die Schule des Lebens, die nie endet.

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RP-FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Pfarrer Martin Fricke in den Räumen für Jugendkirc­he am Alten Hafen

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