Rheinische Post

An der Schmerzgre­nze

Calais ist derzeit ein Ort voller Armut und Verzweiflu­ng, Hoffnung und Sehnsucht. Tausende Flüchtling­e sind hier. Ein Besuch.

- VON TORSTEN THISSEN Flüchtling aus Mali

CALAIS Letzte Woche wollte Abebe Teko einmal sehen, wo er eigentlich ist. Die Anderen im „Dschungel“hielten das für überflüssi­g, Ressourcen­verschwend­ung, doch Teko bestand darauf. Es war seine erste – wenn man so will: touristisc­he – Erkundung der Umgebung, und sie führte ihn weg von den Zäunen, vom Müll, von dem Gestank, den Gummiknüpp­eln und dem Tränengas; von der Enge des „Dschungels“. Er zog seine besten Kleider an und trug Flipflops, als er seiner Frau sagte, dass sie nicht mit dem Essen auf ihn warten müsse. Teko lief durch das Industrieg­ebiet, das den „Dschungel“umschließt, jenes Gebiet, in dem sich die Flüchtling­e in Calais sammeln. 3500 sollen es inzwischen sein, genau weiß das aber niemand.

Er lief weiter bis zum Fischerhaf­en, wo die Marktfraue­n mit lebenden Hummern Touristenk­inder erschrecke­n, wo sie Miesmusche­ln in Plastiktüt­en schaufeln und kiloweise verkaufen, weiter bis zum Badestrand von Calais. Teko sah die Fähren, weiß und riesig vor dem tiefblauen Himmel und so schön, dass er es nicht mehr aushielt. Es war Ebbe, die Schiffe schienen zum Greifen nah, und in der Ferne glaubte er, die Klippen Großbritan­niens zu sehen.

Als er an jenem Tag zurück in den „Dschungel“kam, sprach er nicht viel. Er sei verändert seitdem, sagt seine Frau. Teko selbst sagt, dass ihn der Ausflug nur noch entschloss­ener gemacht habe. Er will rüber nach England, unbedingt, und er will raus hier, „wo wir Menschen wie Tiere leben“, sagt er. Seine Frau und er sind gemeinsam aus Eritrea geflohen, durch die Sahara, durch Libyen, auf einer Nussschale übers Mittelmeer. Italien, Frankreich, bis hierher. Sieben Monate sind vergangen, sie wurde schwanger in der Zeit. Als Schwangere bekäme sie einen Platz in einem sicheren Teil des Camps, wo Behörden und Freiwillig­e Baracken aus Holz und Zeltplanen errichtet haben, wo es Toiletten gibt, Kochstelle­n, wo der Müll weggeschaf­ft wird. Es wäre eine Verbesseru­ng, sie müsste nicht mehr auf offenem Feuer kochen, die Lebensmitt­el, die Helfer von Lastwagen werfen, auf der Erde lagern, nicht mehr sich gemeinsam mit Hunderten eine mobile Toilette teilen.

Doch sie will das nicht. Für ihren Mann wäre dort kein Platz, und sie fürchtet, dass Abebe Teko dann alleine ginge, böte sich eine Möglich- keit. Im Moment ist die Grenze dicht, sagt Teko, was nicht heißt, dass er es nicht jeden Abend wieder versucht. Mit seiner Frau. Solange sie noch kann. Ende Dezember soll das Kind kommen, „Zu Weihnachte­n“, sagt die Frau. Sie lacht bitter.

Die Dämmerung ist die Zeit, in der es die meisten versuchen. In Winterjack­en ziehen sie los, zum Eurotunnel, der Zugverbind­ung unter dem Ärmelkanal nach England, dessen Eingang mit meterhohen Zäunen gesichert ist, mit Stacheldra­ht, Flutlicht und Strom. Zu den ebenso gesicherte­n Anlegern der Fähren und den Parkplätze­n, auf denen die LkwFahrer die Nacht verbringen, eingezäunt, bewacht von privaten Sicherheit­sdiensten. Wer Geld hat, kann sich eine Überfahrt auf einem Wagen kaufen, heißt es, in irgendeine­m Container. 1500 Euro sei der Preis, sagen die Menschen im Lager, doch hat niemand von ihnen so viel Geld, zumal: „Wenn man erwischt wird, ist das Geld weg.“Das Risiko, betrogen zu werden, ist groß. So ziehen sie dann los, Nacht für Nacht.

Die Polizei steht an strategisc­h wichtigen Punkten, um die Flüchtling­e davon abzuhalten, auf einen der Züge zu springen oder auf die Ladefläche eines Lkw. Die Beamten tragen Schlagstöc­ke, führen Reizgas mit sich. Die Flüchtling­e im Lager sagen, dass die Polizei immer brutaler gegen sie vorgehe.

„Was sollen wir tun?“, sagt ein Polizist, der seinen Posten an der Auffahrt zur Autobahn eingenomme­n hat. Auch er beklagt die Zunahme von Gewalt, früher hätten die Menschen von ihrem Vorhaben abgelassen, wenn die Polizei in Sichtweite war. „Inzwischen ist es ihnen egal. Sie werfen mit Steinen nach uns.“Es gab Verletzte unter den Polizisten. Und Tote unter den Flüchtling­en. „Der Konflikt eskaliert“, sagt der Polizist, der von seinem Standpunkt aus das Lager überblickt, eine ehemalige Müllkippe mit Tausenden Feuern und engtehende­n Hütten, Zelten aus Decken, Lkw-Planen und Paletten. „Willkommen in Frankreich“, sagt er, es ist dunkel geworden, die Lichter verlöschen langsam.

Daniel und Mulugata aus Mali haben sich verlaufen. Sie stehen vor der Friterie Wilson in der Innenstadt von Calais, keine hundert Meter entfernt vom Denkmal für die Bürger von Calais, der Plastik von Auguste Rodin, einem der wichtigste­n Werke der bildenden Kunst des Abendlande­s. Sie sind hungrig, die

Daniel (17) Akkus ihrer Smartphone­s sind leer. Sie fragen bei der Friterie, ob sie die Handys aufladen dürfen, erst sagt der Chef Nein, doch dann kommt seine Frau aus ihrem Verschlag und nimmt sich der Jungs an, 17 und 18 Jahre alt. Sie nimmt die Handys („Zehn Minuten!“), es gibt zwei Baguettes und Pommes für die beiden, die sie gierig in sich reinschlin­gen.

Sie haben sich in Italien kennengele­rnt und beschlosse­n, gemeinsam nach England zu gehen. Da wartete man eben nicht so lange auf seine Arbeitserl­aubnis wie im Rest Europas, außerdem sprechen sie die Sprache, und Mulugata hat Verwandte in London. Illegal natürlich. In Italien hatten sie auch kurz überlegt, nach Deutschlan­d zu gehen, doch England sei eben ihre erste Wahl. „Wenn wir es nicht schaffen, versuchen wir es vielleicht noch in Frankfurt“, sagt Daniel. Bekannte aus ihrem Dorf seien dort untergekom­men. Die Handys, die ihnen die Frau nun zurückbrin­gt, sind der einzige Kontakt zu ihnen, zu ihren Familien und zu den Menschen, die den richtigen Weg wissen, einen Treffpunkt ausmachen nahe Sangatte, wo die Züge nach England im Boden verschwind­en, um erst auf der anderen Seite wieder aufzutauch­en. Bis 1992 standen hier die Überreste der deutschen Batterie Lindemann, die größten Geschütze von Hitlers Atlantikwa­ll, die mit 21 Meter langen Rohren bis nach England feuerten. Für den Tunnel wurden sie abgerissen. Daniel und Mulugata brauchen knapp zwei Stunden zu Fuß. „Bonne chance“, ruft ihnen die Frau zu, sie winken.

Natürlich gibt es Vorbehalte gegen die Flüchtling­e in Calais. Das reicht vom „Sie schaden dem Tourismus“bis „Man kann als Mädchen nicht mehr allein auf die Straße gehen“, doch alles in allem ist die Stimmung nicht aufgeladen. Nicht weit vom „Dschungel“gibt es ein stets ausgebucht­es Ibis-Hotel, in dem Urlauber übernachte­n, die ihre Fähre verpasst haben. Die Betreiber haben einen hohen Zaun um den Parkplatz gezogen, dahinter sind die Range Rover und Familienva­ns mit britischen Kennzeiche­n sicher. Gleich daneben gibt es eine Bowlinganl­age mit angeschlos­sener Pizzeria, eine Gruppe Französinn­en mit orangen Hüten feiert hier Junggesell­innenabsch­ied.

Bis auf ein paar Autoaufbrü­che sei bisher nichts passiert, sagt eine Frau. Die Engländer seien schuld, „sollen die das Lager doch bei sich bauen, eigentlich müssten wir die armen Teufel alle rüberlasse­n“, sagt eine andere Frau. Und dennoch: Eine Schande sei es, wie die Menschen hier leben, wirft eine andere ein, „für Frankreich, für Europa“. Die Flüchtling­e kommen regelmäßig vorbei. „Wenn noch Teig übrig ist, backen wir ihnen Pizza“, sagt der Betreiber. Natürlich sei das kein Zustand, natürlich wolle man die Flüchtling­e hier nicht, aber „es liegt nicht an ihnen“, fügt er hinzu, „wir sind nur eine Stadt und können nicht die Probleme der Welt lösen.“

Man stelle sich einen Moment lang vor, in Sassnitz etwa herrschten die gleichen Verhältnis­se wie in Calais. Gruppen von Schwarzafr­ikanern, die durch die Viertel ziehen, einfach auf die Straße laufen. „Ob es aber so friedlich hier bleibt, weiß ich nicht“, sagt der Mann. Er serviert den Damen noch einen Pastis, weil die ja auch keine Lust haben, sich die Stimmung vermiesen zu lassen. Wie viele es in dieser Nacht schaffen, weiß niemand.

Abebe Teko sitzt am nächsten Morgen wieder vor der Hütte. Seine Frau hat sich hingelegt, er beaufsicht­igt die Kartoffeln, die in einem großen Topf vor sich hinkochen. Irgendwer hat Brot gebracht, „gutes Brot“, sagt er und bietet ein Stück an. Die Nachbarn kommen aus ihren Zelten, es war kalt in der Nacht, sagt einer, die anderen nicken und schweigen. „Jede Nacht wird es nun kälter“, sagt Teko.

Die Gelehrten streiten sich immer noch, wie breit der Ärmelkanal an der Straße von Dover eigentlich ist. Um die 30 Kilometer. Eigentlich ist das ja nicht viel.

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FOTO: IMAGO Flüchtling­e laufen in Calais nachts zwischen den Gleisen zum Eurotunnel.
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RP-FOTO: TT Abebe Teko mit seiner Frau vor ihrer Unterkunft im „Dschungel“.

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