Rheinische Post

Der Sündenfall von Dublin

ANALYSE Die Dubliner Übereinkun­ft sollte die Grundlage für einen einheitlic­hen europäisch­en Umgang mit Flüchtling­en legen. Sie stellte sich als die größte Fehlleistu­ng der Europäisch­en Union heraus.

- VON MARTIN KESSLER

DÜSSELDORF Im Schutz der europäisch­en Asylregeln von Dublin III fühlte sich Deutschlan­d lange Zeit sichtlich wohl. 300 Menschen waren im Oktober 2013 vor Lampedusa ertrunken – auf der Flucht nach Europa. Doch der damalige Innenminis­ter Hans-Peter Friedrich (CSU) ging schnell zur Tagesordnu­ng über. Die Bestimmung­en zur Aufnahme von Flüchtling­en würden „selbstvers­tändlich unveränder­t bleiben“, meinte der Chef des Innenresso­rts, der danach recht schnell über die unappetitl­iche Affäre des SPD-Abgeordnet­en Sebastian Edathy stolperte.

„Dublin“war eben das Zauberwort der deutschen Innenpolit­ik. Es hielt Deutschlan­d – zumindest in der Theorie – flüchtling­sfrei. Das in der irischen Hauptstadt 1997 unterzeich­nete Abkommen war eigentlich als Meilenstei­n der europäisch­en Einigung gedacht. Zum ersten Mal arrangiert­en sich die Länder der damals noch Europäisch­en Gemeinscha­ft auf eine gemeinsame Asylpoliti­k. Zuvor war jedes Mitgliedsl­and selbst für Flüchtling­e und politisch Verfolgte zuständig. Die erste Migrations­welle im Gefolge des Zusammenbr­uchs von Jugoslawie­n und der daraus folgenden Balkankrie­ge erschütter­te diese Regel. Man wollte künftig lieber zusammenar­beiten.

Doch daraus wurde nichts – trotz des guten Willens. Zwar versuchten die Staaten im finnischen Tampere 1999 den großen Wurf. Sie verständig­ten sich darauf, eine gemeinsame Asylpoliti­k zu betreiben und in der EU einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“zu schaffen. Doch diese Vergemeins­chaftung, wie es EU-amtlich heißt, kam nie zustande. Es blieb im Kern nur beim simplen Grundsatz des Dubliner Abkommens, zuletzt in der Fassung des Europäisch­en Rats vom 26. Juni 2013. Danach ist das Land, in das die Flüchtling­e zum ersten Mal einreisen, für das Asylverfah­ren zuständig.

Das war die folgenreic­hste Fehlentsch­eidung der Europäisch­en Union. Denn sie wog Deutschlan­d in Sicherheit, weil es nur noch an EU-Staaten grenzte. Damit war ausgerechn­et die reiche Bundesrepu­blik von der Last der meisten Asylverfah­ren befreit. Der stetige Rückgang der Asylbewerb­er bis 2008, als gerade einmal 28.000 Menschen in Deutschlan­d Zuflucht suchten, tat ein Übriges.

Die Regierende­n konnten sich darin sonnen, dass Deutschlan­d zusammen mit Schweden das liberalste Asylrecht in Europa hatte. Zugleich war es perfekt vor einer Flüchtling­swelle geschützt. An der Grenze zu den spanischen Enklaven in Marokko und zwischen Griechenla­nd und der Türkei standen unüberwind­liche Zäune. Die Flucht über das Mittelmeer verhindert­en autoritäre Regime wie das von Gaddafi in Libyen.

Doch die Sicherheit trog. Als immer mehr Menschen auf wackligen Schlauchbo­oten das Mittelmeer überquerte­n, weil sie in Libyen nach dem Sturz Gaddafis nicht mehr aufgehalte­n wurden, begann die Sache, brenzlig zu werden. Denn schon damals war klar, dass Italien und auch Griechenla­nd als die exponierte­sten Länder im Süden der EU den Ansturm würden nicht verkraften können.

Doch die Europäer und vor allem die Deutschen übersahen alle Alarmzeich­en. Bisweilen entstand der Eindruck, die Massen-Unglücke auf dem Mittelmeer kämen gar nicht so ungelegen, da sie Fluchtwill­ige und deren Schleuser doch ganz wirksam abschrecke­n würden. Wegen dieser zynischen Grundhaltu­ng blieben die Südländer auf sich gestellt. Die Schuldenkr­ise gab den beiden Ländern dann den Rest.

Sie behalfen sich mit einem Trick. Sie nahmen die überlebend­en Flüchtling­e auf, registrier­ten sie und schickten sie nach Norden weiter. Plötzlich gab es wieder Flüchtling­e auch in Deutschlan­d. Die Behörden, bei denen sie Asyl beantragte­n, hätten sie wieder nach Ita- lien zurückschi­cken können. Doch das schlechte Gewissen plagte die deutsche Politik. Sie nahm die Verletzung des Dublin-Abkommens billigend in Kauf. Zumindest, solange die Zahl der Flüchtling­e übersichtl­ich blieb.

Die Wende kam mit den großen menschlich­en Katastroph­en der Jahre 2013 und 2014. Wenn in einer Woche Tausende Menschen auf der Flucht ertrinken, kann Europa nicht mehr wegschauen. „Schande über diese EU“hieß es in den Kommentare­n aller angesehene­n Medien. Spätestens jetzt wäre es dringend erforderli­ch gewesen, zu einer einheitlic­hen Flüchtling­spolitik in der EU zu kommen. Man hätte den Geist von Tampere wiederbele­ben können. Man hätte über Quoten reden und einheitlic­he Standards bei Asylverfah­ren festlegen können. Wieder passierte nichts. Die Behörden auf Lampedusa, wo die meisten Flüchtling­e ankamen, resigniert­en, man winkte nur noch durch. Deutschlan­d lehnte damals kurzsichti­g ein Quotensyst­em ab und verließ sich lieber auf Dublin.

Das Ende kam mit Schrecken. Statt das gefährlich­e Mittelmeer wählten die Flüchtling­e aus den Krisengebi­eten des Nahen und Mittleren Ostens die Ägäis als Fluchtstre­cke und schlugen sich dann über die Balkan-Route nach Norden durch. „Das System von Dublin ist zusammenge­brochen“, stellte SPDFraktio­nschef Thomas Oppermann lakonisch fest. Als erstes kapitulier­te das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (BAMF). „Dublin-Verfahren werden nicht weiter verfolgt“, twitterte die Behörde am 25. August. Der Schutz durch Dublin war eine Schimäre. Am 6. September 2015 öffnete Kanzlerin Angela Merkel nach Rücksprach­e mit ihrem österreich­ischen Amtskolleg­en Werner Faymann die Grenze. „Es war der einzige menschenre­chtlich vertretbar­e Weg“, urteilt der Völkerrech­tler Ulrich Fastenrath von der Technische­n Universitä­t Dresden.

Jetzt müssen die Europäer die Scherben von Dublin auflesen. Es wird die größte Bewährungs­probe der EU. Und es ist unsicherer denn je, ob die Europäer sie bestehen.

Dank Dublin konnte sich

Deutschlan­d das liberalste Asylrecht leisten, ohne Flüchtling­e aufnehmen zu müssen

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