Friedensnobelpreisträgerin vor historischem Sieg
Bei der ersten freien Parlamentswahl in Myanmar seit 25 Jahren ist die Beteiligung hoch. Die Opposition geht von einem Erfolg aus.
DÜSSELDORF Millionen Menschen im südostasiatischen Myanmar hoffen darauf, schon bald in einem freien Land zu leben, das erstmals seit einem Vierteljahrhundert von einem demokratisch gewählten Parlament regiert wird. Ihre Ikone ist die 70-jährige Aung San Suu Kyi, Friedensnobelpreisträgerin und selbstlose Anführerin der Opposition in ihrem Heimatland. Sie wird mit Martin Luther King, Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela verglichen. Suu Kyis jahrzehntelang unterdrückte Partei Nationalliga für Demokratie (NLD) scheint vor einem historischen Sieg zu stehen. Genaue Wahlprognosen oder Umfragen gibt es in dem armen Land indes nicht; erste offizielle Wahlergebnisse sollen heute vorliegen.
Die Wahlbeteiligung lag gestern bei angeblich 80 Prozent, schon früh am Morgen standen lange Schlangen vor den Wahllokalen in Tempeln und in Schulen. Die NLD habe teilweise mehr als 85 Prozent der Stimmen erhalten, hieß es. Doch das bedeutet nicht automatisch, dass Suu Kyi souverän die Wahl gewonnen hätte – zu kompliziert sind die politischen Rahmenbedingungen in Myanmar.
Seit 2011 führen Generale in Zivil mit ihrer Partei USDP die Staatsgeschäfte. Sie haben festgelegt, dass sie im Ober- und Unterhaus jeweils unabhängig vom Wahlergebnis ein Viertel aller Sitze erhalten, „um den Übergang zur Demokratie friedlich zu gestalten“, so die offizielle Lesart. Deshalb muss eine künftig mit einfacher Mehrheit regierende Partei mindestens 67 Prozent der Mandate gewinnen. Die wichtigen Ministerien Inneres, Verteidigung und Grenzsicherung hat sich das Militär ohnehin fest reserviert.
Andererseits haben die Generale politische Gefangene entlassen, die Pressezensur gelockert, Reformen vorangetrieben und das Land für ausländische Investitionen geöffnet. Außerdem ist die Hoffnung groß, ausländische Touristen für Myanmar zu interessieren. Die internationale Staatenemeinschaft fördert den Weg des Landes in die Demokratie: 2012 wurden westliche Sanktionen aufgehoben, die EU erlaubte zollfreie Importe.
Allerdings ist die Sorge nicht ausgeräumt, dass die Generale ihre Macht auch diesmal nicht abgegeben. Beobachter fürchten deshalb, die Militärregierung könnte das Wahlergebnis manipulieren. Bei den zunächst freien Wahlen im Jahr 1990 hatte Suu Kyis Partei 80 Prozent der Parlamentssitze errungen, doch das Militär dieses Ergebnis schlicht ignoriert. Bei der nächsten Wahl 2010 durfte die NLD erst gar nicht antreten. Und jetzt hatte die Wahlkommission knapp 100 überwiegend muslimische Kandidaten abgelehnt, weil deren Eltern zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder keine Bürger Myanmars gewesen sein sollen, was von internationalen Beobachtern bezweifelt wird.
Vertreter der Europäischen Union lobten aber diesmal die Organisation der Wahl: „Der Prozess ist ziemlich verlässlich“, sagte der Chef der EU-Wahlbeobachter, Alexander Graf Lambsdorff, der „Tagesschau“. „Es ist ein sehr vorläufiger Eindruck, doch soweit scheint alles glatt zu laufen.“Die Auszählung der Stimmen findet, anders als bei der Wahl 2010, unter Aufsicht noch in den Wahllokalen statt und soll sofort bekanntgegeben werden, um Manipulationen auszuschließen.
Der frühere Regierungschef der Junta und heutige Präsident Thein Sein sicherte öffentlich zu, das Ergebnis auf jeden Fall anzuerkennen. „Aber das heißt nicht, dass die Leute hinter ihm dem auch folgen werden“, warnte die unabhängige amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
„Ich will die Regierung dieses Landes führen“, betonte Suu Kyi in einem Fernsehinterview. Ober- und Unterhaus wählen im Februar 2016 den neuen Präsidenten. Die Politikerin darf sich laut Verfassung jedoch nicht selbst zur Wahl stellen, weil Burmesen mit ausländischem Ehepart- ner oder Kindern nicht antreten dürfen. Ihr Mann war Brite, ihre Kinder besitzen ebenfalls die britische Staatsangehörigkeit. Also wird Suu Kyi aus der zweiten Reihe führen müssen – auch diese Vorstellung gefällt dem Militär möglicherweise nicht.
Seit dem Einzug ins Parlament 2012 wächst die Kritik an der 70Jährigen. Damals kam sie als Kandidatin bei Nachwahlen ins Parlament und wurde sofort zu kühlen Realpolitikerin. So drängte sie verängstigte Dorfbewohner, die um ihre Gesundheit und ihre Ernte fürchteten, den Protest gegen eine chinesische Kupfermine aufzugeben – die Nation brauche das Geld. Und Menschenrechtler warten vergeblich darauf, dass Suu Kyi die blutige Verfolgung der Rohingya, einer muslimischen Minderheit im Land, verurteilt. „Ja, Muslime sind ins Visier genommen worden, aber Buddhisten auch“, sagte sie stattdessen in einem BBC-Interview vage. Die buddhistische Mehrheit mag die Rohingya nicht – Solidarität mit ihnen würde Wählerstimmen kosten. Diesmal waren die rund 500.000 erwachsenen Rohingya gar von der Wahl ausgeschlossen: Die Regierung hatte sie kurzerhand zu Ausländern erklärt, obwohl sie teils seit Generationen im Land leben.
Befürchtungen, Suu Kyis Partei könnte Einbußen erleiden, weil das makellose Image ihrer Chefin als sanft-beharrliche Ikone des friedlichen Widerstands Kratzer erhalten hat, scheinen sich indes nicht zu bewahrheiten. Als sie zur Stimmabgabe in eines der 40.000 Wahllokale kam, brachen Hunderte seit Stunden ausharrende Anhänger in langen Jubel aus. Suu Kyi genießt in ihrem Heimatland offenkundig weiterhin Bewunderung für ihre furchtlose Art, wie sie der Militärjunta die Stirn bot und dafür 15 Jahre Hausarrest in Kauf nahm. Ihre Selbstdisziplin wirkte fast unmenschlich: Die beiden Söhne ließ sie elf- und 15jährig in Großbritannien zurück, um in Myanmar für die Demokratie zu kämpfen. Ihr Mann, ein britischer Historiker, starb 1999 in Oxford an Krebs – seine Frau stand ihm nicht bei, weil sie fürchtete, danach nicht mehr in Myanmar einreisen zu dürfen.