Kreuzfeuer
Sie mussten hier sein. Das Mondlicht hatte merklich an Kraft verloren, und bald musste ich los, runter über das freie Feld zwischen meinem jetzigen Standort und der Rückseite der Stallungen. Ich sah noch ein letztes Mal durchs Fernglas, und da war’s, eine Bewegung, vielleicht nur ein zur Entkrampfung gestrecktes Bein oder ein zum Aufwärmen massierter Fuß, aber dennoch eine verräterische Bewegung. Irgendjemand wartete auf mich in der Baumreihe rechts vom Haus. Von dort aus hatte er die Zufahrt und die Straße unten bestens im Blick.
Nur, dass er da in die falsche Richtung schaute. Ich war hinter ihm. Aber wo war sein Komplize? Der Mond tauchte schließlich weg, und mit ihm verschwand das Licht. Aber ich wartete trotzdem noch ein paar Minuten, bis ich sicher war, dass meine Augen sich ganz an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Pechschwarze Nacht war es zwar nicht, da die Sterne noch ein wenig schimmerten, aber Greystone Stables konnte ich von meinem Platz aus nicht mehr erkennen. Und umgekehrt konnte mich von da unten jetzt auch niemand mehr sehen.
Ich vergewisserte mich noch einmal, dass mein Handy ausgeschaltet war, stand auf und lief über das Gras.
Als ich durch den Zaun schlüpfte, der die Stallgebäude von der dahinter liegenden Koppel trennte, passte ich höllisch auf, nicht über irgendetwas Herumliegendes zu stolpern. Ich machte einen Bogen um den Misthaufen hinter dem Durchgang, der mir in der Vorwoche als Versteck gedient hatte.
Wie gern hätte ich ein Nachtsichtgerät dabeigehabt, das Zauberglas, mit dem Soldaten im Dunkeln sehen konnten, wenn auch alles grünstichig. Mein einziger Trost war, dass höchstwahrscheinlich auch der Feind keins hatte – wir waren alle gleich blind.
Ich drückte mich an die Stallmauer hinter dem Durchgang, schloss auf bewährte Weise fest die Augen und horchte. Nichts. Kein Atmen, kein Füßescharren, kein Husten. Ich horchte gut eine Minute, wobei ich selbst flach und lautlos atmete. Immer noch nichts.
Überzeugt, dass sich dort niemand versteckt hielt, trat ich hinein. Hier unter dem Dach war es wirklich stockdunkel. Ich rief mir das Bild des Durchgangs in Erinnerung, wie ich ihn die Woche zuvor gesehen hatte. Mir fiel das blaue Fass ein, auf dem ich gesessen hatte. Das musste hier irgendwo sein. Und ich entsann mich, dass ein paar Holzstangen an der Wand gelehnt hatten.
Ganz langsam bewegte ich mich voran, indem ich mich mit den Händen und dem linken Fuß vortastete. Die Turnschuhe waren aus dünnem Segeltuch, eigentlich zu dünn für eine so kalte Nacht, aber damit spürte ich die Bodenbeschaffenheit viel besser als in den armeeüblichen, dick besohlten Kampfstiefeln.
Mein Fuß berührte das Plastikfass, und ich trat darum herum an die Schwingtür. Drückte mein Gesicht dagegen und schaute durch eine der breiten Lücken zwischen den Latten.
Nach dem pechschwarzen Durchgang wirkte der Stallhof direkt hell, aber so hell, dass ich im Dunkel unter dem Dachvorsprung etwas hätte erkennen können, war es dennoch nicht. Zum Beispiel, ob eine Stalltür offen stand, was umge- kehrt aber wohl auch hieß, dass niemand sehen konnte, wie ich die Lattentür aufzog und den Hof betrat.
Langsam schloss ich die Tür, blieb reglos stehen und horchte wieder auf Atemgeräusche, doch es war nichts zu hören, nicht mal ein Luftzug.
Wenn er noch am selben Platz stand, wäre der Mann, der sich bei den Bäumen verborgen hielt, von meinem jetzigen Standort aus auch am helllichten Tag nicht zu sehen gewesen, aber mir war klar, dass hier noch mindestens eine andere Person sein musste. Und falls Alex Reece zu ihnen gestoßen war, hatte ich es mit dreien zu tun. Das Zitat über relative Kampfstärke aus ,Die Kunst des Krieges’ von Sunzi fiel mir wieder ein.
Wenn wir dem Feind an Stärke gleich sind und ihn überraschen können, kämpfen wir. Sind wir ihm zahlenmäßig unterlegen, halten wir uns fern.
Ich war allein, und sie waren zu zweit oder gar zu dritt. Hatte ich mir nicht vorgenommen, mich fernzuhalten?
Eine andere Perle der Weisheit Sunzis kam mir in den Sinn.
Jede Kriegführung beruht auf Täuschung. Sind wir nah, müssen wir den Feind glauben machen, wir seien weit entfernt; sind wir fern, müssen wir ihn glauben machen, wir seien nah. Der Feind will geködert sein. Wir täuschen Unordnung vor und zerschmettern ihn.
Ich schlug das Bündchen meines schwarzen Rollkragenpullovers zurück und sah auf die Uhr. Es war vier Uhr siebenundvierzig.
In achtzehn Minuten, genau um fünf nach fünf, würde ein Wagen durch das Tor von Greystone Stables fahren und auf der Zufahrt anhalten. Dann würde der Fahrer einmal hupen und mit eingeschalteten Scheinwerfern und laufendem Motor genau fünf Minuten da stehen bleiben, bevor er umkehrte und wieder davonfuhr. Zumindest würde das alles passieren, wenn Ian Norland meine schriftlichen Anweisungen gewissenhaft befolgte.
Begeistert hatte ihn der Plan nicht gerade, und das war noch milde ausgedrückt, aber ich hatte ihm versichert, dass ihm keine Gefahr drohte, wenn er die Autotüren geschlossen halte. Auch da hatte ich den Mund mal wieder ziemlich voll genommen. Aber ich nahm wirklich nicht an, dass Jackson Warren und Peter Garraway einem von uns etwas antun würden. Nicht, bevor ich die Million zurückgezahlt hatte.
Kriegführung beruht auf Täuschung. Sind wir nah, müssen wir den Feind glauben machen, wir seien weit entfernt.
Wenn ich in den Ställen nach meiner Mutter suchte, sollten Warren und Garraway glauben, ich sei unten am Tor. Der Feind will geködert sein. Der Wagen mit den aufgeblendeten Scheinwerfern sollte sie nach unten locken, weg von den Ställen und weg von mir.
Wir täuschen Unordnung vor und zerschmettern ihn. Wie es sich damit verhielt, würde man sehen.
Langsam und lautlos bewegte ich mich im Inneren des Stallgevierts nach rechts und blieb dabei in den dunkelsten Schatten des Dachüberhangs. Wo war meine Mutter? Ich tastete nach den Riegeln an den Stalltüren. Alle waren fest geschlossen. Aufmachen würde ich vorerst keinen, weil das sicher nicht ohne Geräusch abging.
(Fortsetzung folgt)