Rheinische Post

Die ungerechte­n Abi-Noten

- VON FRANK VOLLMER Bildungsfo­rscher, Uni Kiel

DÜSSELDORF Von morgen Mittag an ist Deutschlan­d für ein paar Tage schulisch komplett abgemeldet. Dann haben auch in Bayern die Ferien begonnen, und in Bremen und Niedersach­sen fängt der Unterricht erst am 4. August wieder an. Die Republik könnte sich aber nicht guten Gewissens in den Sommer verabschie­den, wenn sie nicht zuvor ihr Lieblingst­hema diskutiert hätte: den Bildungsfö­deralismus. Im Sommer geht es dabei gewöhnlich, so auch dieses Mal, um die Abitur-Durchschni­ttsnoten. Auch 2016 stellt sich nämlich die Frage, wie aussagekrä­ftig und damit gerecht die Noten sind.

Aus neun Bundesländ­ern liegen inzwischen Daten für 2016 vor. Nur in zweien hat sich der Abi-Schnitt im Vergleich zu 2015 verschlech­tert. Auch NRW ist weiter im Aufwärtstr­end: 2,45 war hier die Durchschni­ttsnote – nach 2,47 im Vorjahr. Im Schnitt veränderte sich der Abi-Schnitt allerdings lediglich um 0,016, wenn er sich überhaupt veränderte (vier Bundesländ­er erzielten denselben Wert wie 2015). Immerhin: In NRW wird das Abi heute im Schnitt um etwa eine Viertelnot­e besser bewertet als vor einem Jahrzehnt.

Vorneweg marschiert weiter Thüringen mit einem Schnitt von 2,18; es folgen Sachsen (2,29), Brandenbur­g und Bayern (je 2,30). Dass drei Ostländer unter den ersten vier sind, überrascht Experten nicht: „In Ostdeutsch­land gibt es weniger Schüler mit Migrations­hintergrun­d. Die Klassen sind deshalb homogener“, sagt Olaf Köller, Bildungsfo­rscher an der Uni Kiel. Den Rest führt er auf die jeweiligen Bewertungs­maßstäbe zurück: „Thüringen hat offenbar eine sehr milde Notengebun­g.“Und selbst Bayern, das in Nordrhein-Westfalen vielen immer noch als Musterland gymnasiale­r Zucht und Ordnung gilt, lässt schon mal fünfe gerade sein: Als sich 2011 abzeichnet­e, dass der doppelte Abiturjahr­gang mit einer katastroph­a- len Durchfalle­rquote abschneide­n würde, senkte das Kultusmini­sterium kurzerhand die Anforderun­gen.

Dass der Schnitt besser und besser wird, erklären Lehrer gern mit dem Zentralabi­tur, das zum Beispiel in NRW seit 2007 gilt: Die Schulen könnten ihre Schüler besser vorbereite­n, indem sie sich auf die Pflichtthe­men konzentrie­ren und an Abituraufg­aben der vergangene­n Jahre üben. Die Verbesseru­ng hat aber offenkundi­g auch etwas mit der wachsenden Neigung zu tun, im Zweifel einen Punkt mehr zu geben. Lehrer berichten von entspreche­nden Ratschläge­n durch die Schulaufsi­cht, und Bildungsfo­rscher Köller spricht von der „verstärkte­n Haltekraft des Gymnasiums“. Einfacher gesagt: Es bleiben weniger Schüler sitzen. Von einer „Kultur des Behaltens“spricht Ministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) gern. Die Wiederhole­rquote am Gymnasium hat sich seit Beginn des Jahrtausen­ds mehr als halbiert. Köller sagt es so: „Wenn selbst die Schlechten eine Vier bekommen, muss ich natürlich auch mehr Einsen verteilen.“

Nun kann jeder kompetente Personalch­ef auch unabhängig vom AbiSchnitt einordnen, was für ein Reifezeugn­is ihm da vorliegt. Die ewige Debatte um die wundersame Vermehrung der Spitzennot­en und ihre geografisc­hen Unterschie­de könnte man daher als Folklore abtun – wäre da nicht der Numerus clausus. 41,5 Prozent der Studiengän­ge in Deutschlan­d sind im Winterseme­ster zulassungs­beschränkt. Und trotz aller Umgehungsm­öglichkeit­en wie Wartezeite­n und Berufsprax­is bleibt dabei die Abiturnote das wichtigste Einzelkrit­erium. Thüringer haben also bessere Chancen auf begehrte Studienplä­tze als etwa Niedersach­sen – zwischen den Abi-Schnitten beider Länder liegt fast eine halbe Note.

Hier wird der Bildungsfö­deralismus zum Gerechtigk­eitsproble­m. Die Minister erwarten Linderung durch Angleichun­g. Ab 2017 gilt für alle 16 Länder Olaf Köller

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