Die ungerechten Abi-Noten
DÜSSELDORF Von morgen Mittag an ist Deutschland für ein paar Tage schulisch komplett abgemeldet. Dann haben auch in Bayern die Ferien begonnen, und in Bremen und Niedersachsen fängt der Unterricht erst am 4. August wieder an. Die Republik könnte sich aber nicht guten Gewissens in den Sommer verabschieden, wenn sie nicht zuvor ihr Lieblingsthema diskutiert hätte: den Bildungsföderalismus. Im Sommer geht es dabei gewöhnlich, so auch dieses Mal, um die Abitur-Durchschnittsnoten. Auch 2016 stellt sich nämlich die Frage, wie aussagekräftig und damit gerecht die Noten sind.
Aus neun Bundesländern liegen inzwischen Daten für 2016 vor. Nur in zweien hat sich der Abi-Schnitt im Vergleich zu 2015 verschlechtert. Auch NRW ist weiter im Aufwärtstrend: 2,45 war hier die Durchschnittsnote – nach 2,47 im Vorjahr. Im Schnitt veränderte sich der Abi-Schnitt allerdings lediglich um 0,016, wenn er sich überhaupt veränderte (vier Bundesländer erzielten denselben Wert wie 2015). Immerhin: In NRW wird das Abi heute im Schnitt um etwa eine Viertelnote besser bewertet als vor einem Jahrzehnt.
Vorneweg marschiert weiter Thüringen mit einem Schnitt von 2,18; es folgen Sachsen (2,29), Brandenburg und Bayern (je 2,30). Dass drei Ostländer unter den ersten vier sind, überrascht Experten nicht: „In Ostdeutschland gibt es weniger Schüler mit Migrationshintergrund. Die Klassen sind deshalb homogener“, sagt Olaf Köller, Bildungsforscher an der Uni Kiel. Den Rest führt er auf die jeweiligen Bewertungsmaßstäbe zurück: „Thüringen hat offenbar eine sehr milde Notengebung.“Und selbst Bayern, das in Nordrhein-Westfalen vielen immer noch als Musterland gymnasialer Zucht und Ordnung gilt, lässt schon mal fünfe gerade sein: Als sich 2011 abzeichnete, dass der doppelte Abiturjahrgang mit einer katastropha- len Durchfallerquote abschneiden würde, senkte das Kultusministerium kurzerhand die Anforderungen.
Dass der Schnitt besser und besser wird, erklären Lehrer gern mit dem Zentralabitur, das zum Beispiel in NRW seit 2007 gilt: Die Schulen könnten ihre Schüler besser vorbereiten, indem sie sich auf die Pflichtthemen konzentrieren und an Abituraufgaben der vergangenen Jahre üben. Die Verbesserung hat aber offenkundig auch etwas mit der wachsenden Neigung zu tun, im Zweifel einen Punkt mehr zu geben. Lehrer berichten von entsprechenden Ratschlägen durch die Schulaufsicht, und Bildungsforscher Köller spricht von der „verstärkten Haltekraft des Gymnasiums“. Einfacher gesagt: Es bleiben weniger Schüler sitzen. Von einer „Kultur des Behaltens“spricht Ministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) gern. Die Wiederholerquote am Gymnasium hat sich seit Beginn des Jahrtausends mehr als halbiert. Köller sagt es so: „Wenn selbst die Schlechten eine Vier bekommen, muss ich natürlich auch mehr Einsen verteilen.“
Nun kann jeder kompetente Personalchef auch unabhängig vom AbiSchnitt einordnen, was für ein Reifezeugnis ihm da vorliegt. Die ewige Debatte um die wundersame Vermehrung der Spitzennoten und ihre geografischen Unterschiede könnte man daher als Folklore abtun – wäre da nicht der Numerus clausus. 41,5 Prozent der Studiengänge in Deutschland sind im Wintersemester zulassungsbeschränkt. Und trotz aller Umgehungsmöglichkeiten wie Wartezeiten und Berufspraxis bleibt dabei die Abiturnote das wichtigste Einzelkriterium. Thüringer haben also bessere Chancen auf begehrte Studienplätze als etwa Niedersachsen – zwischen den Abi-Schnitten beider Länder liegt fast eine halbe Note.
Hier wird der Bildungsföderalismus zum Gerechtigkeitsproblem. Die Minister erwarten Linderung durch Angleichung. Ab 2017 gilt für alle 16 Länder Olaf Köller