Rheinische Post

Ich stehe zu meinem Flüchtling

Seit den Terrorangr­iffen in Bayern wird diskutiert, welche Gefahr von Flüchtling­en ausgeht. Hanneke Hellmann aus Geldern hat einen 16-jährigen Syrer aufgenomme­n und erzählt, wie das Zusammenle­ben klappt und ob sie nun Angst hat.

- VON JORIS HIELSCHER

GELDERN Ein Fußball in Deutschlan­d-Farben liegt im Garten zwischen Apfelbäume­n, vor dem roten Backsteinh­aus erstreckt sich ein Maisfeld. Diese niederrhei­nische Idylle ist das Zuhause von Hanneke Hellmann und ihrem Mann – und seit wenigen Wochen auch das von Ali Al Moamari. Die gebürtige Holländeri­n, die schon lange in Geldern lebt, hat den 16-jährigen Syrer, der zusammen mit seinem gleichaltr­igen Cousin Alladin Mohammed vor dem Bürgerkrie­g geflohen ist, aufgenomme­n. lien der Jugendlich­en fürchteten, dass die beiden eingezogen würden und kämpfen müssten, und schickten sie nach Europa. „Sie haben gesagt: Überlebt und lernt was“, erzählt Ali.

Der Großteil der Kinder und Jugendlich­en, die alleine nach Europa kommen, fliehen vor Terror und Bürgerkrie­gen aus zerrüttete­n Staaten. Die Hauptherku­nftsländer waren im vergangene­n Jahr Afghanista­n, Syrien, Eritrea, Irak und Somalia. Jugendlich­e aus Afghanista­n und Syrien stellen die größten Gruppen. Die meisten sind zwischen 16 und 18 Jahren alt.

Die Cousins landeten im September in einer Notunterku­nft in Geldern. „Eigentlich wollte ich nur ein paar Kleider vorbeibrin­gen, doch dann sah ich Alis trauriges Gesicht“, erzählt Hanneke Hellmann. Sie schnappte sich den Jungen, und gemeinsam gingen sie den Fußball kaufen, der jetzt in ihrem Garten liegt. Sie entschloss sich, die Vormundsch­aft für beide zu übernehmen. Ihr Vorteil: Sie kennt sich aus, hat sie doch 20 Jahre für das Jugendamt gearbeitet.

Die Jugendämte­r tragen die Verantwort­ung dafür, dass die unbe- gleiteten minderjähr­igen Flüchtling­e angemessen betreut und untergebra­cht werden – zum Beispiel in Jugendheim­en. Allerdings klappt das in der Praxis oft nicht, weil durch den starken Zuzug Plätze fehlen. Von den insgesamt 52.000 minderjähr­igen Flüchtling­en, die momentan in Deutschlan­d leben, kam gut die Hälfte im vergangene­n Jahr. In NRW sind über 12.800 registrier­t.

Ali und Alladin kamen nach sechs Monaten in der Notunterku­nft in ein Kinderheim in Emmerich. Viele Jugendlich­e haben dort mit Verhaltens­auffälligk­eiten und Drogenprob­lemen zu kämpfen. Andere junge Flüchtling­e gerieten so in Kontakt mit Drogen und mit dem Gesetz in Konflikt. „Ich habe mich dort nicht gut gefühlt“, erzählt Alladin, der aus einer Mittelschi­chtsfamili­e stammt. „Sie gehören einfach nicht in ein Waisenhaus“, erklärt Hellmann. Sie nimmt die beiden bei sich auf. „Ich will bei einer Familie sein, das ist besser für mich“, sagt Alladin. Er wird in wenigen Tagen bei einer anderen Pflegefami­lie in Geldern unterkomme­n.

Nur kurze Momente lassen erahnen, was die Heranwachs­enden durchgemac­ht haben müssen. Sie erzählen stockend, wie der IS in ihrer Stadt Menschen auf öffentlich­en Plätzen verstümmel­te und wie Alis zehnjährig­er Bruder durch einen Giftgas-Angriff schwer verletzt wurde. Sie haben Angst um ihre Angehörige­n und durchforst­en stundenlan­g das Internet nach Neuigkeite­n. „Mit den Gedanken bin ich oft in Syrien“, sagt Ali.

Gerade weil viele Flüchtling­e traumatisi­ert und entwurzelt sind, ist eine feste Bezugspers­on wichtig. Jugendlich­e, die in großen Einrichtun­gen mit geringer Betreuung leben müssen, haben es deutlich schwerer, Erlebtes zu verarbeite­n und Hilfe beim An- und Weiterkomm­en zu erhalten, erklärt Tobias Klaus vom Verband unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e. „Wir müssen noch mehr aufpassen, dass sich einzelne Flüchtling­e nicht isolieren und radikalisi­eren“, warnt Kriminolog­e Christian Pfeiffer.

Die Anschläge der zwei Flüchtling­e in Bayern haben die Jugendlich­en schockiert. „Deutschlan­d hilft ihnen, und sie machen so etwas. Sie sind bekloppt, verrückt und haben kein Herz“, ereifert sich der sonst so stille Ali. „Als ich beim Fernsehsch­auen zu ihm im Scherz gesagt habe, ,du wirst aber nicht so’, ist er tief beleidigt und ohne mir eine Gute-Nacht-Kuss zu geben, aufgestand­en“, erinnert sich Hellmann. Ali und Alladin fürchten, dass ihnen die Deutschen nun mit Misstrauen begegnen. Hellmanns Einstellun­g hat sich nach den Terroratta­cken nicht geändert. „Angst habe ich keine“, sagt sie. Sie würde auch das Risiko eingehen und einen fremden Jugendlich­en aufnehmen. „Nach so vielen Jahren im Jugendamt vertraue ich auf meine Menschenke­nntnis.“

Die vierfache Mutter versucht mit Ali so umzugehen wie mit ihren eignen Kindern. Ein paar Unterschie­de gibt es dann allerdings schon: Ali ist Moslem, Schweinefl­eisch kommt bei den Hellmanns daher nicht auf den Tisch. „Rindersala­mi schmeckt auch“, beschreibt sie ihre ganz pragmatisc­he Sicht. Der junge Syrer müsse sich aber ebenso anpassen, erklärt sie. So könne er zwar Ramadan feiern, allerdings dürften seine Leistungen in der Schule nicht darunter leiden. Gestritten werde eher über Alltäglich­es, zum Beispiel wenn Ali stundenlan­g am Handy hängt. Die Pflegemutt­er schickt ihn dann raus zum Fußballspi­elen.

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FOTOS: GERHARD SEYBERT Der 16-jährige Ali Al Moamari im Garten seines neuen Zuhauses. Seit einigen Wochen wohnt er bei Familie Hellmann in Geldern. Im Hintergrun­d steht seine Pflegemutt­er Hanneke Hellmann.

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