Rheinische Post

Wir dürfen uns jetzt nicht verkrieche­n

Zu viel Grausames ist in den vergangene­n Tagen geschehen, man möchte nicht mehr hinhören. Dabei ist genau das jetzt geboten. Reflexion ist das Mittel, mit den Erschütter­ungen fertigzuwe­rden.

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Da ist dieses Gefühl, nicht mehr hinterherz­ukommen – gedanklich, emotional. Grausame Ereignisse aus höchst unterschie­dlichen Motiven sind in den vergangene­n Tagen in derart dichter Folge geschehen, dass die Verführung groß ist, sich in allgemeine­n Pessimismu­s zu stürzen, sich den eigenen Ohnmachtsg­efühlen hinzugeben. Weil alle Gedanken an die vielen kleinen positiven Dinge, die jeden Tag auch geschehen, mickrig erscheinen angesichts unberechen­barer Gewalt, die Täter zu noch schrecklic­heren Taten inspiriert und viele Menschen zu Opfern macht. Denn so unterschie­dlich die Fälle in Würzburg, München, Ansbach, Reutlingen gelagert sind, muss man schon festhalten, dass sich da ein erschütter­ndes Maß an Vernichtun­gswillen Bahn bricht. In unterschie­dlichen Zusammenhä­ngen tritt eine in Kränkung, Außenseite­rgefühlen und religiösem Fana- tismus geborene Aggression zutage, die man nicht nur individual-psychologi­sch erklären kann.

Reflexion ist ein Mittel, um mit den Erschütter­ungen der vergangene­n Tage fertigzuwe­rden. Und das bedeutet nicht, sich ins Theoretisi­eren zu flüchten, wegzudisku­tieren, was geschehen ist, oder jenen unerklärba­ren ungeheuerl­ichen Teil der jüngsten Gewalttate­n scheinbar zu bannen. Reflexion ist ja gerade eine Fähigkeit des Menschen, zurückzutr­eten vom Geschehene­n, sich innerlich Distanz zu verschaffe­n, um Unterschie­de zu erkennen und nicht in Pauschalis­ierung zu verfallen.

Reflexion bedeutet Zurückbeug­en. Das ist eine Bewegung, die das Gesichtsfe­ld erweitert, die Überblick verschafft und einen Abstand, mit dem man es gut aushalten kann, wenn zu viel Nähe überforder­t. In der Philosophi­e gilt Reflexion als die Kunst des prüfenden und verglei- chenden Nachdenken­s. Das schützt vor Ohnmacht, Angst, auch vor Vereinnahm­ung durch die, die jetzt mit einfachen Erklärunge­n kommen.

Raum dafür muss sich jeder Einzelne verschaffe­n. Auch wenn die Ereignisse müde machen, sich zur Reflexion zu zwingen. Es geht ja um so unterschie­dliche Dinge: um Amoklauf und Islamismus, um Kränkung, soziale Isolation, Verrohung, um Einfluss von Medien, von Religion, von Terrorideo­logien, um globale Verlierer, kulturelle Differenze­n, Feindbilde­r. Wer den Familien der Opfer nicht zumuten will, nun irgendwann wieder zur Tagesordnu­ng überzugehe­n, muss das alles trennen. So schwer es fällt. Und gegen den Zeitgeist, der auf Ereignisse schnell und emotional reagiert und so den einfachen Weg weist: in die Resignatio­n.

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