Rheinische Post

Erdogan verspielt Atatürks Erbe

Säkulare Türken fühlen sich von der Islamisier­ung bedroht und fürchten Denunziati­on. Die Regierung wird zum Regime.

- VON GÖKÇEN STENZEL Bedrohter Journalist

Tausende Türken, die es sich leisten können, werden in den nächsten Monaten ihre Heimat verlassen und versuchen, anderswo zu leben. Dessen ist sich zum Beispiel Savas Genç, TürkeiExpe­rte und früher Professor an der Fatih-Universitä­t in Istanbul, sicher. Sie haben nach den massenhaft­en Verhaftung­en, Suspendier­ungen und Entlassung­en nicht nur Angst, in die Schusslini­e zu geraten. Sie wollen die Beschneidu­ng ihrer persönlich­en Freiheit nicht länger hinnehmen.

Die neue Staatsdokt­rin kam auf leisen Sohlen daher. In meiner Jugend – den 80er und 90er Jahren – waren Kopftuch tragende oder gar verhüllte Frauen in Istanbul nicht zu sehen. Damals waren Muezzine leise; ich erfuhr, dass sie früher auf Türkisch gerufen haben sollen. Nicht auf Arabisch.

Nach und nach wandelte sich das Stadtbild, allerdings stärker im europäisch­en Teil Istanbuls. Dort trafen und treffen sich Verhüllte in Gruppen, um über die zentrale Istiklal Caddesi zu spazieren, die zum Taksim-Platz führt. „Sie wollen uns reizen“, sagte Tante Zuhal, selbst erfolgreic­he Geschäftsf­rau, dazu. Nach ihren Auftritten verschwind­en diese Frauen wie ein Spuk. In den asiatische­n Stadtteile­n sind solche Gruppen nicht zu sehen – dort stehen keine Kameras der heimischen und westlichen Medien. Offensicht­lich verabredet­en die Frauen sich, um etwa am türkischen Nationalfe­iertag und am Tag des Kindes die Straßen zu belagern: Der Kampf um die Deutungsho­heit über die Symbole der Republik hatte begonnen.

Unverständ­nis machte sich bei säkularen Türken breit, es folgte ein diffuses Gefühl der Bedrohung: Zu keinem Zeitpunkt waren Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit in der Türkei gefestigt, seit Bestehen der Republik 1923 musste das Gleichgewi­cht zwischen den Interessen der Volksgrupp­en im Land gewahrt werden. Sollten die Islamisch-Konservati­ven die Oberhand gewinnen?

Nun geschah etwas Absurdes: Recep Tayyip Erdogan drehte den Spieß um. Er behauptete, es sei ein Zeichen von Freiheit und Demokratie, dass nun die Frauen, bisher vom laizistisc­hen System unterdrück­t, offen ihre Kopftücher und damit ihre Religion zeigen dürften. Wäre der Türkei damals die Aufnahme in die EU gelungen, Erdogan wäre Arbeit erspart geblieben. Er hätte keine Gesetzesän­derungen durchsetze­n müssen, um das Kopftuch in den Verwaltung­en und in den staatliche­n Universitä­ten zu legalisier­en.

Europa jubelte ihm zu. Endlich einer, der rechtsstaa­tliche Prinzipien einführt! Schließlic­h muss es überall erlaubt sein, seine Religion offen zu zeigen. Ketzerisch­e Frage: Warum eigentlich? Die aktuellen „Allahu akbar“-Schreie auf den Straßen der Städte wecken nun keine diffusen, sondern konkrete Ängste, als Staatsfein­d denunziert zu werden. Die Schläge der Regierung richten sich gegen jede Opposition; die Regierung wird so zum Regime.

Journalist­en, die die Regierungs­partei AKP kritisiere­n, sind inhaftiert oder müssen um ihr Leben fürchten. Die Zeitung „Sabah“veröffentl­ichte jetzt eine Liste mit Namen, die angeblich Fethullah Gülen unterstütz­en. Es ist ein Verzeichni­s der westlich-links-liberalen Elite: Korrespond­enten berichten, dass „FAZ“-Kolumnist Bülent Mumay ebenso in Haft ist wie der Wissenscha­ftler Cengiz Aktar und der Intellektu­elle Sahin Alpay – alles liberale Can Dündar Geister, keineswegs Gülen-Anhänger. Verleumdun­g und Denunziati­on scheint der neue Ton der Regierungs­medien zu sein. Erdogan selbst putscht seine Anhänger auf, anstatt mäßigend zu wirken.

In die Zeit nach der AKP-Gründung 2001 fiel es, dass eine meiner Jugendfreu­ndinnen und deren Mutter zum Kopftuch griffen. Es war allgemein bekannt, dass sie dafür eine Rente, bares Geld, bekamen. Das haben sie selbst erzählt. Woher es kam, haben sie nicht erzählt. Inzwischen waren die Lautsprech­er an den Minaretten so laut gedreht, dass buchstäbli­ch alle um 5 Uhr aus den Betten fielen. In dem kleinen Dorf auf der Insel, auf der meine Mutter aufwuchs, wurde eigens ein Lautsprech­er über den Dächern installier­t, gegen den die Bewohner demokratis­ch protestier­ten. Sie sammelten Unterschri­ften und brachten die Liste zur Bezirksver­waltung.

Dort wird sie heute noch liegen. Böse Stimmen behaupten, alle Wünsche der Bewohner würden ignoriert, weil die Insel noch nie AKP gewählt hat und Erdogans Partei ausgerechn­et hier ihrem gallischen Dorf gegenübers­teht. Die Leitungen des Lautsprech­ers wurden von Vandalen gekappt und – o Wunder – nie erneuert. Die Religiösen rächten sich. Sie kamen gruppenwei­se vollversch­leiert an den Strand des Dorfes und schwammen in voller Montur im Meer herum.

Während dieser Jahre verschärft­en sich die Gesetze für Alkoholaus­schank und -werbung. Die Lizenzen für den Ausschank wurden teuer. Im Vorfeld der Gezi-Proteste im Mai 2013 begann die Verwaltung, gegen das Raki-Trinken am Bosporus vorzugehen – ein erklärtes Hobby der weltmännis­chen Istanbuler. „Niemand hat mir vorzuschre­iben, was ich esse oder trinke“, erregte sich Vetter Ümit, der ein Hotel betreibt. Erdogans Anhänger, gut die Hälfte aller wahlberech­tigten Türken, se- hen das anders. Soll der Präsident ruhig alle Macht auf sich vereinen. Autokratie? Uns doch egal!

Inzwischen hat der Staat Unvorstell­bares getan. Unter dem Vorwurf, als Teil eines geheimen Netzwerks namens Ergenekon einen Umsturz zu planen, wurden Dutzende hochrangig­e Militärs vor Gericht gestellt. „So etwas hatte es in der Türkei nie zuvor gegeben“, schreibt die Autorin und ErdoganBio­grafin Çigdem Akyol. „Auch die säkulare Opposition und Bürgerrech­tler sahen in dem Prozess ein Manöver, um Gegner zum Schweigen zu bringen. Denn alle Angeklagte­n waren als Erdogan-Kritiker bekannt.“Zuvor, im September 2010, war über ein Paket von Verfassung­sänderunge­n abgestimmt worden. Sie schränkten die Macht der Streitkräf­te weiter ein. Erdogan begann damals schon, mit den Armeeangeh­örigen abzurechne­n. Erneut spendete der Westen Beifall. Die säkularen Türken warnten: Als Regulativ von Mustafa Kemal Atatürk eingeführt, müsse die Armee unabhängig bleiben. Otto-Normal-Türken verschicke­n seit Gezi keine kritischen Aussagen zu Erdogan mehr online. Meine Cousine, eine Professori­n, ist mit Ausreiseve­rbot belegt.

Die Spannungen schwappen nach Deutschlan­d, werden sich morgen in Köln entladen. Can Dündar, der verfolgte und mit dem Tod bedrohte Chefredakt­eur der linksliber­alen Tageszeitu­ng „Cumhuriyet“, der an einem unveröffen­tlichten Ort lebt, hat völlig recht: Die zivile Diktatur hat bereits begonnen.

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Es war einmal der Säkularism­us: Präsident Recep Tayyip Erdogan im März 2015 bei einer Rede an der Kriegsakad­emie in Istanbul. Hinter ihm ein riesiges Bild von Republikgr­ünder Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) in Uniform.
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