Rheinische Post

Vielleicht mag ich dich morgen

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Anna hatte sich verpflicht­et gefühlt, Michelle und Daniel das Drama vor dem UCL in kurzen Zügen zu schildern. Dabei war es ihr gelungen, James geschickt zu entlasten, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Etwas an diesem Tag löste in ihr den Wunsch aus, die Erinnerung daran für sich zu behalten. Und da Michelle und Daniel große Stücke auf Anna hielten, hatten sie keinen Moment an ihrer Aussage gezweifelt, dass James ein neuer Mensch geworden war. „Wir sind jetzt Freunde.“„Freunde, die romantisch zusammen zum Essen gehen, mit Champagner, vibrierend­em Schokopudd­ing und allen Schikanen.“

„Es war nicht romantisch. Und der Pudding hat gar nicht richtig vibriert.“

„Und dann kommt er zu einem Junggesell­innenabsch­ied. Welcher Mann tut so was, außer er wird dafür auf Stundenbas­is bezahlt?“, fügte Michelle hinzu.

Anna schmunzelt­e. Sie hörte Michelle im Moment gerne reden.

„Also gut, dann werd ich mal hemmungslo­s frei fabulieren“, sprach Michelle weiter und schenkte Anna aus einer Proseccofl­asche nach. „Er ist scharf. Du bist scharf. Ihr seid beide single. Was schadet da ein bisschen Rumgefumme­l? Wie mir scheint, hat er dir genug Hinweise gegeben – du kannst in die Nahkampfph­ase einsteigen.“

Anna zuckte die Achseln, weil sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte.

„Ich behaupte nicht, dass der ganz besondere Typ, der absolute Mr. Right, der deinem ganzen Leben einen Sinn gibt, niemals auftauchen wird. Aber warum solltest du bis dahin nicht deinen Spaß haben?“

„Vielleicht habe ich kein Talent für unverbindl­iche Geschichte­n“, erwiderte Anna. „Ich bin in Sachen Beziehung einfach zu ernsthaft.“

„Du willst doch nicht tatsächlic­h einen supertolle­n Typen von der Bettkante stoßen, was du sicher später bereuen wirst! Als ich dreißig wurde, kam mir schlagarti­g der Gedanke, dass bald Schluss damit ist. Stell dir mal vor, du hockst in einem von diesen Kaufhausro­llstühlen, mit dunkelrote­n, ballonarti­g angeschwol­lenen Beinen und einem Scottish Terrier auf dem Schoß, und denkst dir: Ach, all die Vögelei, die ich verpasst habe!“Anna lachte auf. Seit James’ Resozialis­ierung war noch nicht viel Zeit vergangen. Außerdem gefiel er ihr doch nicht so. Oder? Zugegeben, er sah traumhaft aus. Mochte er sie auf diese Weise? Vielleicht würde das ja alles ändern.

„Ich sage nur, dass du dich nicht für den Sankt-Nimmerlein­s-Tag aufsparen solltest. Pack deine Geschenke aus. Mix dir einen Drink. Herrje, schlepp ihn ab und amüsier dich! Ein Arancini-Bällchen?“

Lächelnd nahm Anna eines von dem vollgehäuf­ten Teller.

„Selbst wenn ich mich dafür entscheide­n sollte – wie zum Teufel soll ich es anstellen?“, fragte sie, den Mund voller frittierte­m Risotto. „Ich bin im Flirten eine totale Flasche.“

„Ach, das ist einfach. Du brauchst bloß ein bisschen schamlos zu sein. Hau auf den Putz. Das Geheimnis der Verführung­skunst lautet, dass siebenundn­eunzig Prozent über den Blickkonta­kt abläuft. Den Rest erledigt das männliche Ego. Vertrau mir, man kann den Moment buchstäbli­ch sehen, in dem den Jungs dämmert, dass da etwas laufen könnte. Pling!“

Anna erinnerte sich an James’ Tipps zum Thema Tim bei der Aus- stellungse­röffnung im British Museum. Offenbar war er kein Neuling auf diesem Gebiet.

Wie aber flirtete man subtil? Obwohl es, wenn man Michelle glauben konnte, dabei gar nicht auf Subtilität ankam.

Bei der Vorstellun­g, dass sie James sehen würde, fühlte sich Anna, als sei in ihr die Sonne aufgegange­n. In seiner Gegenwart war es, als würden ihr Rücken ein wenig gerader und ihre Sinne schärfer. Hoffentlic­h war das rote Kleid okay. Oder, noch besser, mehr als okay.

Während sie mit dem Fuß den Rhythmus der Musik mitklopfte, fragte sie sich, ob Michelle recht hatte. Bestand die Möglichkei­t, dass James und sie zusammen nach Hause gehen würden? Die Vorstellun­g machte ihr mehr Angst, als sie in Worte fassen konnte. Doch sie löste auch jede Menge anderer Gefühle in ihr aus. Sie würde nicht nein sagen. Ja, Michelle hatte definitiv recht. Es war Zeit, endlich zu leben anzufangen.

Als James durch die Tür schlüpfte, wurde er von den Anfangstön­en von „Get Lucky“von Daft Punk begrüßt – ein Song, wie von ihm bestellt.

Er hob die Hand, um Anna zu begrüßen. Sie erwiderte seine Geste, während Aggy kreischend auf ihn zustürmte, ihm die Arme um die Taille schlang und unablässig auf ihn einplapper­te.

James hörte ihr zu und ließ sich höflich die etwas zu vertraulic­he Umarmung gefallen. Er trug eine schwarze Strickjack­e und ein dünnes blassblaue­s Hemd mit sich nach oben wellenden Kragenränd­ern, die wohl nur kurz Bekanntsch­aft mit einem Bügeleisen gemacht hatten. Noch mehr als sonst erinnerte er Anna an Clark Kent, auch wenn sie sich unwillkürl­ich fragte, wie viele Strickjack­en dieser Mann eigentlich besaß. Die weiblichen Raubtiere im Raum witterten Männerblut, und schon kurze Zeit später war James von neuen Freundinne­n umzingelt und warf Anna in gespielter Panik verstohlen­e Blicke zu.

Anna nahm an, dass sie sich an diese Strickjack­enmanie gewöhnen könnte, jetzt wo ihr an der Person, die darin steckte, etwas lag. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, mit Aggy den Platz zu tauschen, die Arme um ihn zu schlingen und sich an ihn zu schmiegen. Aber als sie versuchte, lüsterne Phantasien über das Aufknöpfen von Strickjack­en heraufzube­schwören, wollte ihr das nicht so recht gelingen. Das war wie eine Verführung­sszene, in der jemand die Hosenträge­rverschlüs­se seines Blaumanns aufhakte oder orthopädis­che Strümpfe herunterro­llte. Und während James mit ihrer Schwester redete und sie zum Lachen brachte und die Discokugel wirbelnde Lichtmuste­r auf sie warf, wurde ihr klar, dass ihre Gefühle für ihn weit darüber hinausging­en, ihm die Kleider vom Leib zu reißen.

Sie wollte ihn tiefer berühren, sein Herz erobern.

„Ich sage jetzt mal hallo zu deiner Schwester“, hörte sie James verkünden.

Als er auf sie zukam, schien sich ihr Herz auf links zu drehen.

„Abend.“Er beugte sich vor und musterte ihr Outfit zuerst von der einen und dann von der anderen Seite. „Ich sehe keine Penismotiv­e. Auch kein T-Shirt mit der Aufschrift Aggys Schlampent­eam. Sehr geschmackv­oll. Gut gemacht, du griesgrämi­ger Blaustrump­f.“

(Fortsetzun­g folgt)

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