Rheinische Post

Wenn es sich zu lügen lohnt

Ein Mann ersticht einen Familienva­ter, der ihm nur helfen wollte. Der Münchner „Tatort“ist nervenaufr­eibend.

- VON LESLIE BROOK

MÜNCHEN Diesen Satz dürfte die Ehefrau noch lange bereuen: „Ben da liegt einer, siehst du den?“Daraufhin sagt ihr Mann Ben (Markus Brandl): „Warte mal kurz...“und geht zu dem vor einem Einkaufsze­ntrum auf dem Boden robbenden Menschen, um ihm zu helfen. Er erkundigt sich, ob alles okay ist, und als der andere ihm die Hand hinstreckt, will er ihn hochziehen. Für seine Zivilcoura­ge wird er übelst bestraft. Vor den Augen seiner Frau Ayumi (Luka Omoto) und seines kleinen Sohnes Taro (Leo Schöne) wird er mit mehreren Messerstic­hen lebensgefä­hrlich verletzt, muss notoperier­t werden und stirbt.

Die Münchner Bürger sind entsetzt, die Boulevardp­resse titelt: „Niedergest­ochen auf offener Straße. Kann man sich noch sicher fühlen?“Und Kommissar Ivo Batic (Miroslav Nemec), der ohnehin von Schlaflosi­gkeit geplagt wird, ist von der Rolle, zu sehr nimmt ihn mit, dass der Junge die Tat mitansehen musste. Er will den Täter finden, am besten gleich: Batic verfolgt sofort einen Mann, der sich vom Tatort entfernt und auf den die grobe Beschreibu­ng zu passen scheint. Doch auch wenn zu Beginn alles nach einem schnellen Ermittlung­serfolg aussieht, entwickelt sich der Fall zu einem der komplizier­testen Ermittlung­spuzzles der Münchner Kripo.

Es gibt keine Tatwaffe, keine Täter-Opfer-Beziehung, zunächst kei- ne DNA und offenbar nur unzuverläs­sige und voneinande­r abweichend­e Zeugenauss­agen. Der Mann trug eine Jacke, vermutlich einen Parka, aber war der grün, braun oder grau? Hatte er eine Kapuze auf oder ein Käppi? Einen Bart oder eine Brille? War er groß oder klein? Südländer oder Süddeutsch­er? Das Gesicht des Flüchtende­n hat niemand präzise gesehen.

Weil Batic aus der Reihe tanzt, überträgt Chef Karl Maurer (Jürgen Tonkel) lieber Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) die Leitung der Soko in dem Fall. Alle stehen mächtig unter Druck, die Öffentlich­keit will Ergebnisse. Doch die Ermittler treten auf der Stelle: Wie will man dieses Phantom schnappen? Erst als die Leiterin der Operativen Fallanalys­e Christine Lerch (Lisa Wagner) hinzustößt, gibt es neue Ansätze.

Die Folge, hinter der das RegieDrehb­uch-Gespann Sebastian Marka und Erol Yesilkaya steht, das bereits für die „Tatorte“„Hinter dem Spiegel“und „Das Haus am Ende der Straße“verantwort­lich war, hält erneut einen hochspanne­nden und nervenzehr­enden Fall bereit. Er erzeugt das nötige Mitgefühl für die Hauptfigur­en und weckt Verständni­s für die teils komplizier­te Polizeiarb­eit. Kurze humorvolle Momente werden eingestreu­t in Form der Kalenderbl­ätter, die Batic und Leitmayr Monat für Monat, den der Fall andauert, abreißen und die Weisheiten wie „Das Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht“offenbaren.

Es ist schlicht, wie der Titel der Folge sagt, „Die Wahrheit“, die Batic und Leitmayr ergründen wollen. Wer ist der wahre Täter? Die oberste Maxime der Polizeiarb­eit, wie Batic betont, doch stoßen die beiden bei der Wahrheitsf­indung an ihre Grenzen, so dass Leitmayr sinniert: „Unser Leben ist der Tod, immer nur Leichen, vielleicht ist der Beruf ein Fehler.“Und dann ist da noch die Frau des Toten, die mit ihrem Sohn zurückgebl­ieben ist, und Batic klarmacht, dass es manchmal richtig sein kann, zu lügen.

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