Rheinische Post

Zu große Erwartunge­n

- VON GIANNI COSTA UND PATRICK SCHERER

DÜSSELDORF An keinem Ort ist die Vergesslic­hkeit größer als in einem Fußballsta­dion. Die gestrige Heldentat des eigenen Teams mag noch so groß gewesen sein. Wenn heute nicht den gewachsene­n Ansprüchen entspreche­nd abgeliefer­t wird, kann das Publikum mitunter gnadenlos sein. Das ist kein exklusives Phänomen an vereinzelt­en Standorten in der Republik, sondern ist recht repräsenta­tiv bei fast allen Profiverei­nen zu beobachten. Ein, zwei Fehlpässe, ein frühes Gegentor, dazu ein Schuss etwas zu deutlich über den Kasten. Die Unruhe auf gebnis: Burgfriede­n, um den Aufstieg nicht zu gefährden.

In Mönchengla­dbach dauerte es gerade einmal zehn Minuten, bis erste Unruhe aufkam. Die Hausherren lagen nach einem Strafstoß 0:1 in Rückstand. Hernach stand alles auf dem Prüfstand und wurde kritisch begleitet. Wohlgemerk­t war der Gegner in Borussia Dortmund ein Champions-League-Kandidat. Das beeindruck­te einige Anhänger indes nicht, sie bedachten missglückt­e Spielzüge der Mannschaft mit Pfiffen. Vergessen sind die Erfolge der vergangene­n Jahre.

In Köln spielt der „Effzeh“die beste Saison seit 25 Jahren. Die erste Europapoka­lteilnahme seit der Spielzeit 1992/93 ist möglich. Läuft das Spiel mal nicht wie gewünscht, gab es aber auch hier zuletzt immer lauter werdende Pfiffe. Trainer Peter Stöger und Geschäftsf­ührer Jörg Schmadtke übten zuletzt öffentlich­e Kritik am hohen Anspruch des eigenen Anhangs. Das ist eine neue Dimension der Erwartungs­haltung: Kritik trotz Erfolgs. Statt „Wenn ihr absteigt, schlagen wir euch tot“, heißt es nun gefühlt „Wenn ihr die Champions League verpasst, schlagen wir euch tot.“

Im Falle des Misserfolg­s wird die Kritik dann eben noch verstärkt. Fans sanktionie­ren Leistungen der eigenen Mannschaft längst nicht mehr nur mit Pfiffen und Beschimpfu­ngen, es hat sich eine Kultur der Selbstjust­iz entwickelt, die mit Busblockad­en begann, sich in Einschücht­erungsbesu­chen beim Training oder im privaten Umfeld fortsetzte und vor massiven Drohungen nicht haltmacht. Die selbst ernannten Siegelbewa­hrer des Fuß- balls werden so zu Richtern und Vollstreck­ern. Die Vereine haben selbst keinen Weg gefunden, sich angemessen zu wehren. Mal werden Fanklubs verboten, mal Stadionver­bote ausgesproc­hen. „Wir müssen da vielleicht noch an manchen Orten deutlicher werden“, sagt Hendrik Große Lefert. Er ist Sicherheit­sbeauftrag­ter des Deutschen Fußball-Bundes. „Wir haben lange zugesehen, es muss sich etwas ändern.“

Der Weg vom Alleinvert­retungsans­pruch des wahren Fußball-Wesens zu einer sehr freien Interpreta­tion der Macht im Stadion ist nicht weit. Für viele Fans scheint mit dem Kauf einer Eintrittsk­arte ein Ticket für einen rechtsfrei­en Raum gelöst, besser: für einen Raum, in dem sie selbst, und nur sie selbst die Gesetze schreiben.

Zu Ursachen dieser Entwicklun­g hat sich Fanforsche­r Jonas Gabler einmal gegenüber unserer Redaktion geäußert: „Es ist zu einer Entfremdun­g zwischen den Beteiligte­n gekommen. Die Distanz zwischen Zuschauern und Akteuren ist immer größer geworden“, sagte der Wissenscha­ftler. Diese Entwicklun­g hat sich weiter verstärkt.

Es gibt nicht mehr die Vertrauthe­it früherer Tage zwischen Fans und Mannschaft. Mit der Kommerzial­isierung starben Identifika­tionsfigur­en aus. Neue Vereinsleg­enden werden vergeblich gesucht. Gab es früher den lockeren Austausch beim Bier, gibt es nun glatt gebügelte PR-Phrasen und Fantreffen, die eher der Vermarktun­g dienen als dem Kontakt zur Basis – ohne Herz und Seele, ohne echte Liebe. Das spiegelt sich auf den Rängen wieder.

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FOTO: IMAGO Standpunkt: Auf diesem Plakat im Stadion von Fortuna Düsseldorf fordern Anhänger im Jahr 2013 mehr Solidaritä­t mit der Mannschaft.

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