Rheinische Post

Eine Nato ohne die Türkei

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Kern der Nato-Mitgliedsc­haft ist die gegenseiti­ge Beistandsp­flicht. Somit fuhr Norbert Röttgen (CDU), der Vorsitzend­e des Auswärtige­n Ausschusse­s im Bundestag, schweres Geschütz auf, als am Rande des syrischen Bürgerkrie­ges die Gewalt zwischen der türkischen Armee und der kurdischen PKK eskalierte. „Die Türkei kann hierfür die Bündnissol­idarität der Nato nicht in Anspruch nehmen“, legte Röttgen fest. Das war im Februar vergangene­n Jahres. Also noch vor dem vereitelte­n Militärput­sch. Seitdem haben sich die entsetzten Reaktionen der Bündnispar­tner über Ankara vervielfac­ht. „Wer sich nicht an die Werte hält, kann der Allianz nicht weiter angehören“, sagte jetzt FDP-Chef Christian Lindner. Wird es also künftig eine Nato ohne die Türkei geben?

Der Nordatlant­ik-Vertrag regelt genau, wo die Beitrittsu­rkunde zu hinterlege­n ist (Artikel 10) und welches Prozedere abzulaufen hat, wenn sich ein Mitglied bedroht fühlt (Artikel 4) oder gar angegriffe­n wird (Artikel 5). Eine Regelung fehlt: wie man ein Mitglied wieder loswird. Ein Ausschluss ist nicht vorgesehen. Im Fall der Türkei kommt erschweren­d hinzu, dass bei einer Trennung von Ankara der gesamte Vertrag einstimmig geändert werden müsste – denn das zu schützende „Gebiet der Türkei“ist ausdrückli­ch Bestandtei­l geworden, als Ankara und Athen 1952 gleichzeit­ig beitraten.

Hohe Nato-Militärs sind hin- und hergerisse­n, wenn sie die fehlende Ausschluss­klausel betrachten. Manche sehen intern mit Sorge, wenn Staaten wie das Kosovo oder Montenegro aufgenomme­n werden, deren Entwicklun­g nicht abschätzba­r ist und die mehr Konflikt als Krisenbewä­ltigung ins Bündnis bringen. Alte Kämpen verweisen indes darauf, dass die Nato schon häufiger zwischen Griechenla­nd und der Türkei moderieren und somit dro- hende Kriege verhindern konnte. Und das ist nach der Präambel des Vertrages das vornehmste Ziel der Nato: „mit allen Völkern und Regierunge­n in Frieden zu leben“.

Doch da ist auch die Selbstverp­flichtung zu den „Grundsätze­n der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts“. Vorgaben, die eine unter Recep Tayyip Erdogan entstehend­e türkische Autokratie schwerlich erfüllt, angesichts von Zehntausen­den Inhaftieru­ngen ohne Prozess, verbotenen Zeitungen und verkürzten parlamenta­rischen Rechten. Freilich gab es teilweise wesentlich schlimmere Zustände nach den drei türkischen Militärput­schen 1960, 1971 und 1980. Aber damals überlagert­e die Ost-West-Frontstell­ung alles.

Auch heute wird der Verbleib der Türkei häufig mit ihrer herausrage­nd wichtigen strategisc­hen Lage begründet. ExGenerali­nspekteur Harald Kujat widerspric­ht: „Das galt zu Zeiten des Kalten Krieges. Jetzt sind Rumänien und Bulgarien Nato-Verbündete, und mit Russland hat die Nato eine strategisc­he Partnersch­aft.“Vor allem verweist Kujat darauf, dass die Türkei eben diese Lage „nicht immer für, sondern häufig gegen die Interessen der Nato-Verbündete­n genutzt“habe. Ihre jahrelange Unterstütz­ung der Aufständis­chen habe etwa zu einer Verlängeru­ng des syrischen Bürgerkrie­ges beigetrage­n.

Aktuell stellt sie sich gegen alle Bemühungen Deutschlan­ds und der USA, die kurdischen Kämpfer für ihr Vorgehen gegen die IS-Milizen mit Knowhow und Waffen auszustatt­en. Und eklatant war die Weigerung, Bundestags­abgeordnet­e nach Incirlik zu den dort stationier­ten Bundeswehr-Soldaten reisen zu lassen. „Eine Parlaments­armee setzt Besuchsmög­lichkeiten für Abgeordnet­e voraus – diese Tatsache muss selbstvers­tändlich unter Verbündete­n akzeptiert sein“, betont Kujat. Aber solche selbstvers­tändliche Solidaritä­t in der Nato lässt die Türkei für sich nicht gelten. Stefan Liebich (Linke)

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