Rheinische Post

Jung, integriert, ausreisepf­lichtig

Navid floh aus Afghanista­n, weil er dort wohl nicht überlebt hätte. Jetzt soll er Deutschlan­d verlassen. Seine Pflegefami­lie kämpft.

- VON JULIA RATHCKE

KÖLN Die Hiobsbotsc­haft erreicht die Familie am Donnerstag, den 18. Mai 2017. Mehr als anderthalb Jahre nach Navids Ankunft in Deutschlan­d – anderthalb Jahre nachdem der mittlerwei­le 18-Jährige sein Leben in Afghanista­n aufgegeben und in Köln neu angefangen hat. „Eilt sehr!“, steht auf dem Briefkopf des Anwaltssch­reibens. „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Asylantrag vollständi­g abgelehnt und Ihnen die Abschiebun­g in Ihren Herkunftss­taat angedroht wurde.“Binnen 30 Tagen soll er das Land verlassen. Doch seine Pflegefami­lie will kämpfen – und reicht Klage ein. seinem neuen Zuhause, und starrt ins Leere. Er wirkt abwesend, spricht kaum, was nicht an seinem Deutsch liegt. Seit einem Jahr geht Navid auf ein deutsches Berufskoll­eg, nächstes Jahr kann er die BF 2 abschließe­n, das entspricht dem Realschula­bschluss der zehnten Klasse. Den Wechsel vom afghanisch­en zum deutschen Schulsyste­m samt Ausgleich seines Schulrücks­tands durch die Flucht hat er fast ohne Zeitverlus­t geschafft. Lisa Gerlach hat drei unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e aufgenomme­n; Haus und Kinderwuns­ch seien groß genug gewesen. Groß waren auch die Anstrengun­gen: Gesundheit­szeugnis, Führungsze­ugnis, Fortbildun­gen, Behördengä­nge, Probewohne­n. 100 Stunden Arbeit vergingen bis zu Navids Einzug im März 2016, und es werden immer mehr. Bereut habe sie es keine Minute.

„Wenn ich zu Hause in Sicherheit wäre, wäre ich nicht hier“, sagt Navid. Er habe Ziele gehabt in Deutschlan­d. „Seit dem Bescheid weiß ich nicht, was ich tun soll – was habe ich falsch gemacht?“Zunächst hat er vieles richtig gemacht: schnell Deutsch gelernt, einen Fußballver­ein und Freunde gefunden, in der Schule aufgepasst. Er wurde ausgezeich­net beim Europäisch­en Wettbewerb NRW, bei dem es um die Sicht von Migranten auf Europa ging. Navid ist höflich, engagiert – und hat moralische Prinzipien. Als sich beim Fußballspi­el die Fouls seiner Kollegen häuften, wollte er die Mannschaft verlassen. Warum er Deutschlan­d verlassen soll, versteht er nicht. Er hat nie gefoult.

Das Asylgesetz sagt: Schutzbere­chtigt ist, wer „stichhalti­ge Gründe für die Annahme vorgebrach­t hat, dass ihm in seinem Herkunftsl­and ein ernsthafte­r Schaden droht“. Dazu zählen: „Verhängung oder Vollstreck­ung der Todesstraf­e, Folter, unmenschli­che oder erniedrige­nde Behandlung, Bestrafung und eine Bedrohung des Lebens infolge willkürlic­her Gewalt im Rahmen eines internatio­nalen oder innerstaat­lichen bewaffnete­n Konflikts.“Navid sollte dem Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) erklären, wieso er schutzbedü­rftig ist. Dreieinhal­b Stunden dauerte die Anhörung; Lisa Gerlach kam als Beistand mit und ihr Part- ner Babak Tubis, der die afghanisch­e Landesspra­che Farsi spricht, als Vertrauens­dolmetsche­r. „Ich habe ihn auf diesen Termin mehr vorbereite­t als ich mich selbst damals auf mein Abitur“, sagt Gerlach. Ein Termin, der über das ganze Leben entscheide­t und der für das Bamf Behördenro­utine ist: Ein Mitarbeite­r macht die Befragung, ein anderer führt Protokoll, am Ende entscheide­t ein Dritter.

Monate später kommt der BamfBesche­id wie ein kalter Schauer. Navid hatte sich doch so bemüht, sich geöffnet, seine Angst überwunden – und geredet. „Ich glaube, was ich erzählt habe, war gut“, sagt er: „Ich weiß nicht, ob sie verstanden haben.“Gerlach sagt, das Protokoll habe nicht viel mit der Anhörung zu tun. Sie spricht von groben Fehlern, auch in der zwölfseiti­gen Begründung zur Asylablehn­ung. Er habe seine Bedrohung nicht ausführlic­h genug beschriebe­n; nicht er sei bedroht, sondern sein Vater. Haben sie ihn nicht verstanden? Wollten sie ihn nicht verstehen? Hat das System? Lisa Gerlach zweifelt.

Jeden zweiten Asylantrag afghanisch­er Flüchtling­e lehnt das Bamf mittlerwei­le ab. Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) hatte das Land Ende vergangene­n Jahres für „in Teilen sicher“erklärt und ein umfassende­s „Rückkehrer­Programm“gestartet. Seitdem gibt es Sammelabsc­hiebungen und Geld für diejenigen, die selbststän­dig ausreisen. Aus NRW gab es 2016 laut Innenminis­terium 14 Abschiebun­gen und 459 „freiwillig­e“Ausreisen nach Afghanista­n.

„Abschiebun­gen auch nach Afghanista­n sind nichts weiter als die Durchsetzu­ng geltenden Rechts“, sagt der innenpolit­ische Sprecher der Unionsfrak­tion im Bundestag, Stephan Mayer. „Wir haben großzügige Regeln, wer zu uns kommen und hier bleiben darf. Wer nicht unter diese Regeln fällt, muss Deutschlan­d wieder verlassen.“Angesichts der uneinheitl­ichen Sicherheit­slage prüfe man Einzelfäll­e aber „besonders sorgfältig“. Der außenpolit­ische Sprecher derselben Fraktion, Jürgen Hardt, betont, dass sich die Sicherheit­slage in den vergangene­n 16 Jahren auch durch deutsche Bundeswehr­einsätze stabilisie­rt habe. In den meisten urbanen Zentren würden Verwaltung­s- und Regierungs­strukturen grundsätzl­ich anerkannt. „Der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte und deutsche Verwaltung­sgerichte haben daher mehrfach bestätigt, dass Rückführun­gen nach Afghanista­n im Einzelfall möglich sind“, erklärt Hardt.

Das Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR betont: Ganz Afghanista­n ist von bewaffnete­n Konflikten betroffen. Aufgrund der sich ständig ändernden Sicherheit­slage könne man gar nicht zwischen sicheren und unsicheren Regionen in dem Bürgerkrie­gsland unterschei­den. Und die Vereinten Nationen sprechen von immer mehr zivilen Opfern: Im ersten Vierteljah­r habe es 72 tote und 76 verletzte Zivilisten gegeben, fast das Fünffache der Opferzahl im vergangene­n Jahr. Der Flüchtling­srat NRW hat eine Petition noch bis Mitte Juni laufen – und fordert einen Abschiebes­topp nach Afghanista­n.

Auch Diplomkauf­frau Gerlach, die ehrenamtli­ch im Kölner Stadtrat sitzt, will einen Abschiebes­topp erwirken. Eine Adoption eines 18-Jährigen würde nicht helfen, einen Ausbildung­svertrag als Schutz vor der Abschiebun­g hält sie für falsch – Navid soll erst seinen Schulabsch­luss 2018 machen. Für ihr Pflegekind will sie mit ihrem Partner Babak Tubis alles versuchen. Viel Zeit, Geld und Nerven haben sie schon investiert. „Es ist teuer, deprimiere­nd, würdelos“, sagt sie, „die Behörden werden so keine Pflegefami­lien mehr für Flüchtling­skinder finden.“Jetzt läuft die Klage gegen den Bamf-Bescheid, „wir spielen auf Zeit“. Navid guckt skeptisch. „Schatz“, sagt Gerlach, „wir sind bei dir, zur Not fliegen wir mit nach Afghanista­n.“

„Navid“bedeutet übersetzt „neu“, aber auch „gute Nachricht“. Bisher bleibt die aus.

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FOTO: ANNE ORTHEN Navid (r.) mit seinen Pflegeelte­rn Babak Tubis und Lisa Gerlach – und den Papieren zu Navids drohender Abschiebun­g.

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