Der öffentliche Glaube
Heute am Fronleichnamstag gehen die Menschen in den Prozessionen für den Glauben auf die Straße.
Wir Menschen des 21. Jahrhunderts sind beinahe unschlagbar, vor allem in unseren Urteilen. Zu fast allem und überall verhalten wir uns, und nicht selten im Brustton der Überzeugung. Wie eine Monstranz tragen wir dann unsere Einsicht, Erkenntnis und Meinung vor uns her. Wer mag und kann, soll sich diesem Zug menschlicher Selbstgewissheit anschließen.
Auch am heutigen Fronleichnamsfest wird eine Monstranz durch die Straßen getragen – auf dem Land mit Sicherheit augenscheinlicher und auffälliger als in der Großstadt mit ihrem traditionell gepflegten Habitus der Glaubensferne. Irritierend mutet der Umzug schon an, wenn die geweihte Hostie nach Art eines altrömischen Triumphzugs durch die Straßen getragen wird, als gäbe es einen Sieg über irgendeinen Feind herrschaftlich zu verkünden. Tatsächlich wohnt dem Fronleichnamszug auch diese Geste inne, zumindest so, wie es das Konzil von Trient (1545-1563) beschied. Denn zu Fronleichnam nahm die römisch-katholische Kirche damals ihren „Glaubensgegner“fest in den Blick, das war die noch junge protestantische Kirche. Das Fest war zu dieser Zeit eine echte Anti-Reformationsdemo.
Die evangelischen Christen haben das lange Zeit nicht vergessen. Nicht weniger demonstrativ wuschen sie darum zur Prozession ihre Wäsche. Denn die Wandlung des Abendmahlbrotes in den „Leib des Herrn“(mittelhochdeutsch: vronlichnam) widerspricht dem Eucharistie-Verständnis der evangelischen Kirche. Dementsprechend barsch verurteilte auch Martin Luther das öffentliche katholische Treiben. Als das „allerschädlichste Fest“bezeichnete er Fronleichnam. Unbiblisch sei es, schlimmer noch: eine Gotteslästerung.
Der Ursprung des Festes ist älter als die Anfänge der Reformation. 1209 soll es gewesen sein, da die Augustinernonne Juliana von Lüttich in einer Vision den Mond mit einem dunklen Fleck erblickte. Keineswegs also eine konkrete Erscheinung war das. So machten sich die Theologen an die Deutung und gelangten schließlich zu der Überzeugung, dass der Mond für das Kirchenjahr stehe, der Fleck indes eine Art Leerstelle sei – als das Zeichen für ein fehlendes eucharistisches Fest. Die Legende steht somit für einen Mangel, den damals wohl auch viele Menschen empfunden haben müssen. Dafür spricht die rasche Verbreitung; schon 1264 wurde Fronleichnam zum allgemeinen Kirchenfest erhoben.
Das war im Mittelalter, die Zeit einer weit verbreiteten Gottesgewissheit. Diese aber ist der Welt längst abhanden gekommen. „Ohne Gott“heißt das vor wenigen Tagen veröffentlichte neue Buch von Peter Sloterdijk, in dem der Karlsruher Philosoph zu bedenken gibt, dass „seit dem frühen 20. Jahrhundert erkennbar ist, wie eine diesseitige Seelendämmerung die metaphysische Götterdämmerung überlagert“.
Die Welt ist für viele nicht nur eine Welt für Menschen, sondern eine Welt von Menschen. Als sei sie vor allem ihr Werk und als seien sie dementsprechend ihr alleiniger Sinn. Damit ist vielen das Wundern abhanden gekommen; Sloterdijk spricht elegant von einem „Strukturwandel des Staunens“.
Wie anachronistisch muten dazu die Prozessionen heute an; und wie überzeugungsmächtig können sie sein. Fronleichnam ist der Tag, an dem die Kirche sich nicht ins Gotteshaus mit seinen sonntäglich wenigen Besuchern zurückzieht. Diesen geschützten, aber auch verborgenen Sakralraum verlässt sie mit der Monstranz. Der Leib Christi wird der Welt, dem Profanen, ausgesetzt.
Vorrangig geht es heute längst nicht mehr um den Streit über das unterschiedliche Eucharistieverständnis. Es geht vielmehr um die Selbstbehauptung des christlichen Glaubens. Die Prozessionen stärken jene, die mitgehen, und sie stimmen möglicherweise jene nachdenklich, die als Zuschauer nur am Straßenrand stehen. In diesem Sinne ist Fronleichnam auch ein froher Missionstag.