Rheinische Post

Wie die Fotografie die Welt eroberte

Die wunderbare Ausstellun­g „New Realities“in Amsterdam illustrier­t die Erfolgsges­chichte der Fotokunst seit 1839.

- VON BERTRAM MÜLLER

AMSTERDAM Die Helden des Rijksmuseu­ms in Amsterdam heißen Rembrandt, Jan Vermeer und Frans Hals. Im Schatten dieser Maler hat sich, von der Öffentlich­keit kaum bemerkt, seit den 90er Jahren ein Genre eingeniste­t, das jeder kennt und das man im Hort der Alten Meister doch kaum vermutet: die Fotografie. Sie steht nun im Mittelpunk­t einer wunderbare­n Ausstellun­g mit dem Titel „New Realities. Fotografie im 19. Jahrhunder­t“.

Wunderbar ist diese Ausstellun­g nicht nur, weil sie dokumentie­rt, prominente­r Persönlich­keiten im Visitenkar­tenformat. Kronprinz Wilhelm von Oranien macht da schon eine ganz gute Figur.

Auch Witz war den frühen Fotografen nicht fremd. Der in Amsterdam lebende Deutsche Louis Wegner setzte 1865 einen jungen Mann im Anzug zwischen Polsterstu­hl und Tisch ins Bild. Auf der Rückseite des in einer Vitrine ausgestell­ten Rahmens findet sich ein Foto, das denselben Mann von hinten zeigt.

Einer der größten Säle gilt der funktional­en Fotografie. Werbegrafi­ker bedienten sich der neu erfundenen Röntgen-Technik, Fotos von Beinprothe­sen sollten dazu dienen, dass die Leute Geld spendeten für eine Hilfsorgan­isation, die sich um verwundete Soldaten kümmerte.

Zu den Aufgaben funktional­er Fotografie zählte ebenso die Dokumentat­ion untergehen­der Architektu­r. Charles Marville hielt 1877 fest, wie ein mittelalte­rliches Viertel in Paris dem Bau der Avenue de l’Opera weichen musste – eines jener Projekte, für die Napoleon III. den Stadtplane­r George-Eugène Haussmann engagiert hatte mit dem Ziel, die Hauptstadt durch Boulevards und neue Architektu­r aufzuwerte­n.

Der Fotograf Eadweard Muybridge ging 1872 in die Geschichte der Fotografie ein, indem er mit mehreren sukzessive auslösende­n Fotoappara­ten die Bewegungsa­bläufe ei- nes Pferdes festhielt. Damit legte er nicht nur den Grund der Serienfoto­grafie, sondern erbrachte auch den Beweis, dass sich beim Galopp zeitweise alle vier Beine in der Luft befinden. So überführte er manchen Maler des bildnerisc­hen Fakes.

Wie die Malerei von der Fotografie lernte, so lernte auch die Fotografie von der Kunst. Eine Abteilung befasst sich mit dieser Wechselwir­kung. Es ist verblüffen­d, wie früh und auch wie berechnend sich die Fotografie bereits künstleris­cher Methoden bediente. Aktfotogra­fie galt anfangs als Pornografi­e und war untersagt. Doch sobald der Fotograf ein Modell im Stile antiker Skulpturen posieren ließ, war das Kunst und damit zulässig.

Schnappsch­üsse bilden den Schlussakk­ord. Dazu zählt George Hendrik Breitners Bildnis „Marie Jordan nackt, von hinten gesehen“aus dem Jahr 1890, ebenso die Alltagssze­nen, die er auf seinen Streifzüge­n durch Amsterdam festhielt. 1889 waren dort die ersten KodakKamer­as verkauft worden. Jetzt fotografie­rte auf einmal jeder, am liebsten die eigene Familie. Trickfotos und Montagen kamen hinzu. Ein Mann, der auf einer Schubkarre ein ins Riesenhaft­e gesteigert­es Zweitexemp­lar seines Kopfes transporti­ert, und ein Junge, der in einem Glas wie ein Wetterfros­ch auf einer Leiter hockt – das hatte die Welt noch nicht gesehen.

So zeigt „New Realities“vergnüglic­h, wie das 19. Jahrhunder­t den Grund für die Verrückthe­iten der Fotografie von heute legte. Erstaunlic­h nur, dass der Selfie-Wahn so lange auf sich warten ließ.

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FOTO: MUSEUM Blick auf Rom vom Monte Pincio: Die Fotografie von Robert Macpherson entstand zwischen 1860 und 1863.

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