Rheinische Post

Fernweh in Schuhkarto­ns

Mit einer Kunstaktio­n setzt sich eine Schulklass­e, die nur aus Flüchtling­en und Migranten besteht, mit dem Thema Fremde auseinande­r. Dabei träumen sich manche in ihr Heimatland zurück, andere finden ihre Wunschorte anderswo.

- VON OLIVER BURWIG Schüler einer Seiteneins­teiger-Klasse

„Dieses Körbchen ist mir wichtig“, sagt der 17-jährige Mamadou Bah. In der Hand hält er ein winziges Abbild eines Henkelkörb­chens aus Knete. „Man nimmt es mit, wenn man zum Markt geht, und trägt es dabei auf dem Kopf“, sagt er und setzt es sich kurz auf. Für den Schüler ist es die verkörpert­e Erinnerung an seine Heimat Gambia, aus der er mit 15 Jahren vor Verfolgung floh. Mamadou besucht mit 28 weiteren Jugendlich­en eine sogenannte Seiteneins­teiger-Klasse für Flüchtling­e und Migranten am Theodor-Fliedner-Gymnasium. Mit Hilfe der Künstlerin Anja Garg verarbeite­ten sie ihre Herkunfts- und Fluchtgesc­hichte, aber auch ihre Lieblingso­rte und Wunschziel­e zu kleinen Dioramen. Derzeit sind sie unter dem Titel „Kennst du das Land – Heimat und Fremde“im GoetheMuse­um zwischen Texten und Bildern der Italienrei­sen des Dichters ausgestell­t.

In Mamadous kleinem Pappkoffer finden sich neben dem Körbchen auch ein gekneteter Mörser mit Stößel, getrocknet­e Blumen und ein Regenschir­m in den gambischen Nationalfa­rben. „In Gambia regnet es viel“, sagt der 17-Jährige und ist ein bisschen verlegen, als er das kleine Knet-Smartphone erklären soll, dass ebenfalls in dem Karton liegt. Seine Familie sei arm, ein Handy habe niemand besessen. Seit zwei Jahren, als er mit einem Freund aus dem Land floh, habe er nichts mehr von seinen Verwandten gehört. Doch ein Leitspruch, den der Schüler wie ein kleines Gedicht auf den Kofferrand geschriebe­n hat, zeigt, dass Mamadou immer in die Zukunft schaut. Übersetzt lautet er ungefähr: Versuche, alles zu tun, was in deiner Macht steht, denn es kann dir immer besser gehen.

In Arthur Beckers Karton herrscht eisiger Winter: Eine weiße Landschaft mit Schneemänn­ern, eine bunte Jurte aus Filz und Fotos aus Kasachstan zeigen die Heimat des 17-Jährigen. „Ich vermisse den Winter“, sagt Arthur. „In Deutschlan­d ist es nie so richtig kalt. Dafür mag ich den Sommer hier.“Sein Herkunftsl­and, das er wegen geringer Bildungs- und Berufschan­cen verlassen habe, sei karg, es gebe wenig Schönes zu sehen. Umso mehr liebe er den Touristeno­rt Burabai, auf Kasachisch Borovoe, dreimal war er schon an den von Bergen und Wäldern umsäumten Seen. Ein winziges Bildchen in Arthurs Koffer erinnert an den Ort. Am meisten vermisst Arthur jedoch seine Freunde, die er nur noch selten sieht. In den Ferien fliege er allerdings wieder nach Kasachstan, um sie und seine Verwandten zu besuchen.

„Die Schüler haben ihre Biografien gezeigt, ihre intimsten Gedanken für uns geöffnet“, sagt Heike Spies, Leiterin des Goethe-Museums. Sowohl sie als auch die Projektlei­terin Silke Hoffmann seien beeindruck­t von den Ergebnisse­n der Arbeit, die jetzt den Besuchern einen Blick in die Heimat und die Träume der Jugendlich­en ermöglicht. Die Seiteneins­teigerklas­se umfasst Jugendlich­e zwischen 15 und 18 Jahren, die unter anderem aus Syrien, Afghanista­n, Kroatien, Albanien, Südkorea, Kanada, Indien, Rumänien und China stammen. Fotos der Freiheitss­tatue, Malerein, die das Weltall abbilden, Geldschein­e ferner Länder, kleine Zeichnunge­n, Spielzeuge, Sprüche und Mitbringse­l zeugen davon, wo die Schüler herkommen, wo Sie hinwollen und was die 15- bis 18-Jährigen gerade bewegt.

Die Koffer waren schon im Fliedner-Gymnasium ausgestell­t, wo sie den Seiteneins­teigern halfen, in Kontakt zu ihren deutschen Mitschüler­n zu kommen. Das sei schwierig, sagt Mamadou, der zwar fließend Englisch, aber nach bisher fünf Monaten Unterricht noch nicht so gut Deutsch spricht. Der Inhalt der Kartons regt zum Gespräch an, bei dem die Mitschüler nicht nur etwas über die Herkunft Mamadous und seiner Klassenkam­eraden erfahren können, sondern auch über deren zum Teil ungewisse Zukunft. „Obwohl ich gute Noten bekomme, weiß ich noch nicht, ob ich eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng bekommen werde“, sagt Mamadou. Arthur Becker (17)

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Geldschein­e, Ansichtska­rten und persönlich­e Erinnerung­sstücke, die ihre Sehnsuchts­orte symbolisie­ren, haben die Schüler in Koffer gepackt.

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