Rheinische Post

In der kleinen Kneipe um die Ecke

Ist der schönste Platz wirklich an der Theke? Ein trinkselig­er und auch ein wenig trauriger Rundgang führt durch die alteingese­ssenen Schankstub­en hinter dem Hauptbahnh­of – so lange es sie noch gibt.

- VON MARC INGEL

OBERBILK/FRIEDRICHS­TADT Schwerfäll­ig erhebt sich Willi Weiser aus seinem Rollstuhl. Er kann noch laufen, halt nur nicht mehr so gut wie früher. Dafür kann der 70-Jährige umso besser Geschichte­n erzählen. Von der guten alten Zeit. Und singen kann er wie ein junger Gott. Seine Gäste danken es ihm, sind sie doch extra gekommen, um authentisc­he Milieu-Atmosphäre aufsaugen. Und davon hat Willi ganz viel zu bieten.

Alt 1,20 Euro, Pils 1,30 Euro: Die Getränkeka­rte im Box-Papst an der Vulkanstra­ße ist ziemlich übersichtl­ich. Seit 30. April hat die LegendenKn­eipe dicht, doch nach dem vorletzten und dem letzten Mal macht Willi Weiser heute noch ein allerletzt­es Mal auf. Zu trinken gibt’s nichts mehr, „vor zwei Tagen haben wir alles leergesoff­en – inklusive der Vorräte vom Büdchen nebenan“, erklärt der Ex-Wirt. Die 20 Besucher, die an diesem Abend an der „Eckkneipen-Tour“, die durch leicht verruchte Schankstub­en hinter dem Hauptbahnh­of führt, teilnehmen, stört es nicht weiter, dass sie auf dem Trockenen sitzen. Sie hängen stattdesse­n an den Lippen von Willi Weiser, der beteuert, dass sie alle schon bei ihm gewesen seien: René Weller und Henry Maske, Dariusz Michalczew­ski und Rocky Rocchi- giani und natürlich die Klitschkos – halt alle, die im Boxsport in Deutschlan­d Rang und Namen haben. Widerspruc­h zwecklos.

Dann erzählt Willi vom Leben hinter dem Bahndamm, wie es sich früher, so nach dem Krieg, abgespielt hat. Wie er als Kind zwischen Nutten, Zuhältern und Freiern gespielt hat. „Wir brauchten damals kein Fernsehen, aus dem Fenster zu schauen, war viel spannender.“Solche Anekdoten wollen die Menschen hören. Ebenso die Lieder, die Willi Weiser mit Inbrunst zu schmettern weiß. Die handeln zumeist von Oberbilk, „dem schönsten Stadtteil auf der Welt“.

Im Scheuren 12 greift Mattes Hülshoff zur Gitarre und singt Alkohol verherrlic­hende Lieder: „Der schönste Platz ist immer an der Theke...“Das Etablissem­ent gilt in der Szene als Schwulen-Kneipe, doch an diesem Abend sind auch viele Rentner, Quartalssä­ufer, Lautsprech­er, Frauen, Neugierige da. Zarah Leander, Lady Gaga und Freddy Mercury zählten zu den Stammgäste­n, versichert Wirt Markus Wedhorn – die nächste Travestie-Show sei Mitte August. Der Haus-Schnaps schmeckt nach Johannisbe­ere und trägt einen Namen, der die vier Wände dieser kleinen Schankstät­te besser nicht verlässt.

„Schnaps, das war sein letztes Wort“, singt Hülshoff im Kupe am Oberbilker Markt. Hunderte Fotos von Gästen an der Wand zeugen von manch durchzecht­er Nacht. Es ist eine Sportkneip­e: Fortuna, DEG, Darts. Der älteste Stammgast heiße Alexander, sei 94 und komme sechs Mal die Woche, sagt Wirtin Petra, die bereits um 9.30 Uhr öffnet. „Die Rentner haben halt auch Durst“, erklärt sie. Es folgen noch weitere Kneipen an diesem Abend, die es lohnt, zu besuchen, vielleicht noch ein letztes Mal. Denn die klassische Eckkneipe ist im Begriff auszusterb­en. Hier ist nichts hip oder glamourös. Es geht eigentlich nur um das eine: seinen Durst zu stillen.

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