Der ewige Sieger Usain Bolt erlebt ein bitteres letztes Einzelrennen.
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LONDON Da geht Usain Bolt also hin und staffiert sich die Leichtathletik über ein knappes Jahrzehnt zur perfekten Kulisse für eine nie dagewesene Ein-Mann-Show aus. Und dann hält sich ausgerechnet bei seinem Abschiedsrennen niemand ans Drehbuch. Ja, mehr noch. Das WMFinale über 100 Meter von London wirft alles so sorgsam Inszenierte derart grob über den Haufen, dass eine Sportart nun erstmal überhaupt keinen großen Erzählstrang mehr hat, mit dem sie auf die Menschen losgehen kann. Dass Bolts Abgang eine Lücke reißen würde, war jedem bewusst, doch nun kommt sein letztes Rennen auf großer Bühne als größter anzunehmender Unfall für die Leichtathletik daher.
Bolt, der immer gewinnt, gewinnt diesmal nicht. Und wer Vorlauf, Halbfinale und Endlauf in London sieht, muss sich fragen, ob Jamaikas Superstar nicht besser schon nach seinen Olympiasiegen von Rio im Vorjahr zurückgetreten, statt die lukrative Selbstvermarktung noch ein weiteres Jahr auszureizen. Denn dem aktuellen Bolt fehlten mit 30 Jahren Beschleunigung und Endspurt, mit denen er sonst immer seinen schwachen Start kaschieren konnte. Diesmal reicht es nicht, diesmal, beim letzten Mal wird Bolt nur Dritter. Drehbuch hin, Drehbuch her.
Doch mit einem Abgang als Bronze-Bolt hätte die Leichtathletik umgehen können. Zu verlieren garniert die selbst ernannte Legende schließlich um einen menschlichen Faktor. Aber dann hätte man doch wenigstens die Geschichte vom Kronprinzen erzählen wollen, vom Erben, vom jungen Wilden, der den Arrivierten vom Thron stößt, weil das junge Wilde eben so machen sollen, um ihre eigene Geschichte zu schreiben. Das Problem: Christian Coleman (21), der auserkorene Kronprinz, gewinnt auch nicht, holt nur Silber. Womit das Drehbuch eines besonderen Abends aus Sicht der Leichtathletik endgültig den Schwenk zur Tragödie nimmt. Denn Weltmeister wird Justin Gatlin. 35, mehrfach des Dopings überführt, zwischenzeitlich lebenslang ge- sperrt, in London vor jedem Lauf vom Publikum ausgebuht. Der AntiHeld obsiegt. Als ob der Joker am Ende Batman aussticht.
Und hier beginnt das eigentliche Dilemma für die Leichtathletik. Vor Samstagabend hatte die Leichtathletik nur das Problem, sich künftig nicht mehr über Usain Bolt vermarkten zu können. Seit Samstagabend hat sie zudem das Problem, einen Weltmeister vorzeigen zu müssen, den sie unmöglich vermarkten kann. Es klänge wie Hohn, wenn der Weltverband zuletzt stolz von 5000 Doping-Kontrollen im WM-Jahr berichtet und nun Gatlin in welcher Form auch immer inszenieren wollte. Selbst in den Augen derer, denen eine Schwarz-WeißSicht der Dinge zu simpel erscheint, dürfte Gatlin das Gewand des Geläuterten nicht stehen. Und der Hinweis, andere hätten ebenfalls betrogen, hilft auch nicht weiter.
Gatlin blieb dann im Moment seines größten Triumphs seit dem WM-Sieg 2005 auch nichts anderes übrig, als sich vor allem im Stillen zu freuen. Ein paar Tränchen, ja, aber einen Spießrutenlauf als Ehrenrunde verkneift sich der US-Amerikaner wohlweislich. Stattdessen kniet er, der Sieger, vor Bolt nieder und überlässt ihm die Bühne der fast 60.000. Alles scheinbar wie immer, aber alles so gar nicht wie immer. „Usain hat mir gratuliert und gesagt, all diese Buh-Rufe hast du nicht verdient“, erzählt Gatlin später. Bolt sagt nach seiner ersten Niederlage in einem direkten Duell auf großer Bühne: „Er war der beste Gegner, dem ich jemals im Wettkampf begegnet bin.“
Gatlin will nun von Jahr zu Jahr entscheiden, ob er weiter macht. Bolt dagegen ist Geschichte. Definitiv. Er lässt die Leichtathletik nicht nur mit seinem Nachfolger alleine, sondern auch mit den großen Fragen, die ihn seine komplette Laufbahn begleitet haben und auf die es auch in naher Zukunft keine objektiven Antworten zu erwarten gibt, weil jeder für sich eine Antwort präferieren muss. War dieser Usain Bolt am Ende ein Star oder gar eine Legende? Oder gehört zum Legendendasein dann doch mehr gesellschaftliche Relevanz des eigenen Ausnahmekönnens als nur reine Unterhaltung? War Bolt bis zuletzt vor allem ein großes, verspieltes Kind auf großer Bühne oder der cleverste Selbstvermarkter, den die Leichtathletik je gesehen hat? Und waren seine außergewöhnlichen Leistungen immer nur allein dadurch möglich, dass eine Laune der Natur ihn mit außergewöhnlichen Hebelmöglichkeiten ausgestattet hat – oder war er am Ende nur der Pfiffigste all jener, die in dieser Sportart schon betrogen haben? Überführt wurde er nie, angezweifelt wurde er immer.
Mit seinem überbordenden Selbstbewusstsein, seiner demonstrativ zur Schau getragenen Lässigkeit beim Start, seinen arrogant wirkenden Mätzchen hat Bolt sich stets auf eine Fallhöhe manövriert, von der aus der Zuschauer normalerweise mit hämischem Genuss den Absturz beobachtet. Doch Bolt stürzt nie. Bis Samstag. Und da stürzt die Leichtathletik mit ihm. Ins größte anzunehmende Dilemma.