Was eine Familie braucht
Obwohl beide Elternteile arbeiten gehen, ist das Geld am Monatsende meist knapp: Vielen Familien in Deutschland ergeht es so. Familie Stahn gewährt uns Einblick in ihr Haushaltsbuch – und stellt die Familienpolitik infrage.
DÜSSELDORF Annika Stahn war wütend an jenem Mittwochmorgen. Sommerferien in Nordrhein-Westfalen. Doch während ihre drei Kinder Mathis (1), Amélie (5) und Pauline (7) zu Hause von den Großeltern betreut werden, weil Schule und Kita geschlossen sind, ist die 36-Jährige auf dem Weg zur Arbeit. Sechs Uhr morgens, die Ampel ist rot und Stahn sieht ein CDU-Wahlplakat. Darauf: „Familien sollen es kinderleichter haben.“Die dreifache Mutter veröffentlicht spontan einen Beitrag auf Facebook. Und löst damit eine Welle des Mitgefühls und der Empörung aus.
„Wieder arbeiten nach 13 Monaten, mit Herzschmerz“, schreibt Stahn. Die Regierung müsse das Elterngeld splitten, Kitas beitragsfrei anbieten, Rücksicht auf arbeitende Mütter nehmen. Stahn schildert ihre Familiensituation und adressiert die Hoffnungen direkt an die Verantwortlichen: „#cdu“, #spd, „#elterngeld“, „#bundestagswahl“. Rund 30.000 Nutzern „gefällt das“, und mehr als 20.000 Menschen teilen ihren Beitrag, machen Freunde und Bekannte aufmerksam auf Probleme, die die Mitte der Gesellschaft umtreiben.
Knapp 8,1 Millionen Familien leben in Deutschland. Elf Prozent davon haben laut Statistischem Bundesamt drei und mehr minderjährige Kinder. Doch viele stehen vor denselben Fragen: nach Betreuungsplätzen, staatlicher Hilfe, der „Work-Life-Balance“– und danach, wie viel Geld am Ende des Monats noch übrig ist.
Annika Stahn muss jetzt, nach einem Jahr in Elternzeit, wieder arbeiten. Einerseits, damit die Familie finanziell über die Runden kommt, sagt sie. Zum anderen, weil sie ihren Traumjob und – neben der Rolle als Ehefrau und Mutter – ihre Identität als Frau nicht verlieren wollte. Obwohl auch ihr Ehemann arbeitet, wird jeden Monat gerechnet.
Die fünfköpfige Familie lebt in einer Kleinstadt in NRW. Das Einfamilienhaus an einer Spielstraße hat sie der Schwiegermutter abgekauft. Ein Glücksfall. Denn die Chance auf einen Kredit sei bei ihren Berufen gering: Der Familienvater (42) ist selbstständiger Steuerfachgehilfe. Sie arbeitet auf 30-Stunden-Basis im Öffentlichen Dienst. Das lohne sich aber kaum, weil gleichzeitig viel Geld in die Kinderbetreuung fließe. Damit die Freizeit nicht für Hausarbeit genutzt werden muss, haben Stahn und ihr Bruder die eigene Mutter als Haushaltshilfe angestellt.
Einen zentralen Fördertopf für Familien gibt es in Deutschland nicht. Es gibt steuerrechtliche Maßnahmen, Geldleistungen, Realtransfers. Laut Daten der OECD sind die Regierungsausgaben für Familien zuletzt gestiegen. Im Vergleich zu anderen Industrieländern liegt die Bundesrepublik im guten Mittelfeld. Aber kommt das Geld an?
Familie Stahn erhält aktuell lediglich Kindergeld. Das liegt bei 192 Euro für die ersten beiden Kinder und bei 198 Euro für das dritte. Das Elterngeld hingegen ist ausgelaufen: Es steht Familien ab der Geburt des Kindes für zwölf Monate zu, sofern sich ein Elternteil um die Betreuung kümmert, und beträgt 60 Prozent des Nettogehalts. „Nach der Steuer reden wir aber nur noch von 55 Prozent“, sagt Stahn. Das Modell, zwei zusätzliche Monate für den Vater zu beantragen, komme für Selbstständige kaum infrage: „Dann sind die Mandanten meines Mannes weg.“Demgegenüber stehen Ausgaben und Sozialabgaben: Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung. Als Angestellte im Öffentlichen Dienst muss sich Stahn privat versichern. Ohne Familien wie die Stahns aber würde der Generationenvertrag, also das System, das die Rente der Älteren sichert, nicht funktionieren.
„Wir sind Familien mit vielen Kindern dankbar für ihren Mut“, sagt Petra Windeck, Landesvorsitzende des Deutschen Familienverbandes NRW. Etliche Schieflagen gebe es in der Familienpolitik, angefangen bei der Mehrwertsteuer für Dinge, die für Kinder nötig sind. „Schlimm“sei, dass keine verlässlichen Ganztagsplätze bereitstehen würden. „Die Situation nagt an den Familien“, sagt Windeck. „Seit den 70er Jahren ist der Anspruch eigentlich, Schule frei anzubieten.“In der Realität aber zahlten Eltern schon Nebenkosten, bevor das Kind einen Fuß in die Klasse gesetzt hat. Zeit, Geld und strukturelle Unterstützung fordert der Familienverband von der Politik. „Es sollte ein gesamtgesellschaftliches Interesse sein, dass mehr Kinder geboren werden.“Wäre Familienpolitik ein Wunschkonzert, Annika Stahn würde sich wünschen, dass Betreuung vor allem in der Ferienzeit einfacher zu organisieren wäre. „Ohne die Großeltern wäre der Alltag kaum zu schaffen“, sagt sie. Der einjährige Mathis geht seit Anfang August in den Kindergarten – bald 45 Stunden die Woche. Bei der Eingewöhnung sind nicht die Eltern dabei, sondern die Großeltern. Das Ehepaar kenne genügend Alleinerziehende, die keine Hilfe hatten, arbeitslos wurden und keine Stelle mehr fanden. Eine Million Kinder wachsen bei Alleinerziehenden auf, die von Hartz IV leben. „Im Zweifel zieht man dann in eine ZweiZimmer-Wohnung“, sagt Stahn, „aber das stellt man sich doch nicht für das Familienleben vor, oder?“Bei den Stahns ist pro Jahr ein großer Urlaub drin: zwei Wochen Mallorca. Stahn nennt das „Pflichttermin und Anker“. Wütend sei sie nicht mehr, eher enttäuscht von der Politik. Sie hofft, dass künftig Familien mit Kindern stärker gefördert werden. Die Stahns wussten, worauf sie sich einlassen, als sie drei Kinder in die Welt setzten. „Wir bereuen nichts“, sagt die Mutter.