SPD will in die Opposition
Die Parteibasis wusste um die Schwächen von Martin Schulz, trotzdem glaubte man an ein Wunder.
BERLIN Für die SPD ist es einer der tragischsten Momente in ihrer mehr als 150-jährigen Geschichte. Es ist 18 Uhr, als das Grauen Gewissheit wird, das sich bereits in den Umfragen der vergangenen Wochen abzeichnete. SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz hat den Hochrechnungen zufolge das bisher schlechteste Wahlergebnis seiner Partei eingefahren. Rund 20 Prozent stellen einen Totalschaden der stolzen Volkspartei dar.
Als die rund 300 Abgeordneten, Mitarbeiter und Wahlkampfhelfer auf die Bildschirme im WillyBrandt-Haus schauen und die rote Säule nicht weiter wachsen will, macht sich Entsetzen breit. Ein Raunen geht durch das Atrium der Parteizentrale, kein Applaus, und dann tiefe Bestürzung als die AfD-Säule auf mehr als 13 Prozent klettert.
Es ist bezeichnend, dass hier bei einer Bundestagswahl zuletzt vor zwölf Jahren frenetischer Jubel ausbrach. Und das auch nicht, weil damals Bundeskanzler Gerhard Schröder die Wahl gewonnen hätte – das war seine Amtsnachfolgerin Angela Merkel (CDU). Sondern weil die SPD im Vergleich zu Umfragen stark zugelegt hatte und die Union massiv abgesackt war. Jetzt aber liegt die SPD am Boden, die Stimmung in der Parteizentrale ist am Abend auf einem Tiefpunkt.
Dabei hatte Martin Schulz wacker gekämpft. Auf zahllosen Marktplätzen, in Betrieben und Fernsehshows hat er für die Partei und sich geworben. Der 61-Jährige aus Wür- selen bei Aachen erzählte dabei die Geschichte eines erfolgreichen und schönen Landes, in dem es dennoch an vielen Stellen nicht gerecht zugehe. Schulz plädierte für hohe Investitionen in Bildung, schnelle Internetanschlüsse und eine Umverteilung im Steuersystem zulasten der Reichsten. Er setzte Akzente bei der Rente, indem er stabile Beiträge und ein Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vor dem 70. Geburtstag forderte. Schulz warb für eine offene, tolerante Gesellschaft mit klaren Einwanderungsregeln in einem solidarischen und geeinten Europa.
Schulz, so wirkte es bei seinen Auftritten in der gesamten Republik, bekam auf den Plätzen deutlich mehr Zustimmung als in den Umfragen. Er musste keine Schmährufe und Pfeifkonzerte von Rechten ertragen. Doch in der Breite der Republik überzeugen konnte er anscheinend trotzdem nicht. Schulz vermochte es nicht, sich als echten Neuanfang seiner Partei nach der Zeit unter Sigmar Gabriel zu präsentieren. Vielmehr führte er dessen Kurs fort, kupferte teils Textbausteine seines Amtsvorgängers ab und setzte auf soziale Gerechtigkeit als Hauptthema.
Schulz erweckte den Eindruck, keine eigene Vision zu haben, es war vielmehr ein „Weiter so“. Schulz ist Dienstältester im Parteivorstand, gehört seit 1999 dem Gremium an. Nach den drei verlorenen Landtagswahlen brach der Schulz-Hype endgültig ein. Er soll bereits in der Absprache mit Sigmar Gabriel für die Nachfolge des SPD-Vorsitzes der damaligen NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft die Zusage gegeben haben, sich nicht in ihren Landtagswahlkampf einzumischen. In der Retrospektive war das der kapitale Fehler des Kandidaten Schulz und seinen Strategen.
Die Partei wusste das, bis in die Basis hinein, glaubte teils trotzdem noch an ein Wunder. Allerdings, so war es am Wahlabend aus Parteikreisen zu hören, stand bereits am Wochenende der Plan, bei einem schlechten Ergebnis klar in die Opposition zu gehen und nicht für eine Regierung mit der Union bereit zu stehen. Dass Schulz dabei jedoch den Parteivorsitz weiter für sich beanspruchen würde, das kam für manche Genossen am Abend dann doch überraschend. Er werde den Parteivorsitz behalten und klar auf die Erneuerung der Partei setzen, sagte Schulz deutlich und bestimmt. Im Willy-Brandt-Haus stimmten sie in „Martin, Martin“Rufe ein, die Spitzengenossen auf der Bühne lächelten. Zuvor hatten aber bereits mehrere Genossen hinter den Kulissen gesagt, dass auch ein mit 100 Prozent gewählter Parteichef nach einem solchen Ergebnis zurücktreten müsste. Ob Schulz sich also im Dezember der Wiederwahl stellen wird, oder es gar auf eine Kampfkandidatur hinauslaufen könnte, ist derzeit noch völlig offen.
Klar scheint bisher nur, dass mit Andrea Nahles an der Fraktionsspitze ein neues Machtzentrum entsteht. Nahles wird als Oppositionsführerin mit der rechtspopulistischen AfD im Parlament harte Arbeit vor sich haben.