Kardinal Marx: So fährt der Kapitalismus vor die Wand
Der Vorsitzende der Bischofskonferenz verlangt ein Umdenken in der Wirtschaft und mehr Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik.
BERLIN Das Bemerkenswerteste im Lutherjahr ist das „Wir“, das der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz verwendet, sooft er von der kirchlichen Sicht redet. Reinhard Kardinal Marx ist sich immer wieder sicher, auch im Namen von Heinrich BedfordStrohm, dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, sprechen zu können, sooft es um Hilfestellung des Religiösen für die praktische Politik geht. Aus- drücklich nennt Marx den Amtskollegen „Freund und Partner“. Das Lutherjahr habe einen „ökumenischen Schub“gegeben.
Liegt es daran, dass beide großen christlichen Kirchen gleichermaßen unter Auszehrung leiden? Die Zahl der Kirchgänger ist bei den Katholiken von zwölf Millionen im Jahr 1950 auf gerade einmal zwei Millionen zurückgegangen. Doch solche Zahlen fordern Marx nur heraus: „Soll die Kirche wieder so sein wie 1950?“, fragt er und antwortet mit einem entschiedenen Nein. „Dass wir weniger werden, heißt doch nicht, dass wir weniger zu sagen hätten“, unterstreicht der Kardinal. Und so schreibt Marx der Politik in der Phase der Vorsondierungen für die nächste Regierungsbildung einiges ins Stammbuch. Zum Flüchtlingsnachzug etwa: „Wer auf Dauer hier ist, muss seine Kinder oder Ehegatten nachholen können. Das ist ethisch geboten.“
Auch mit der Begrenzung der Flüchtlingsaufnahme auf 200.000 hat die katholische Kirche massive Probleme. Es sei nicht verboten, da- rüber nachzudenken, wie sich ein Zustrom humanitär begrenzen lasse. Fünf Punkte seien dabei aber wichtig: Jeder müsse menschenwürdig behandelt werden, der an Europas Grenzen komme, ein faires Verfahren erhalten, so dass die Grenzen nicht zu Todesgrenzen verkämen und niemand zurück in eine Situation von Tod und Verfolgung müsse, und es sei viel mehr zu tun für Herkunftsländer. Besonders wichtig ist der Kirche, dass sich die neue Bundesregierung einem „neuen Denken für Europa“verpflichtet sieht. Nachdrücklich mahnt Marx eine neue Fortschrittsidee an. Dazu gehöre auch ein ehrlicher Umgang mit den Folgen des Klimawandels, des Welthandels und der Migration. „Die sozialen und ökologischen Kosten tauchen in der Rechnung der Globalisierung nicht auf“, kritisiert Marx. Und unter ausdrücklichem Hinweis auf seinen Nachnamen sagt er: „Wenn diese Kosten nicht in den Blick genommen werden, wird das Projekt Kapitalismus vor die Wand fahren.“Damit macht Reinhard Marx der Kapitalismuskritik von Karl Marx sicherlich alle Ehre. Anders als jener ruft der Kardinal aber zur Bildung einer „erneuerten sozialen Marktwirtschaft“auf.