Rheinische Post

Mit Sütterlin Geschichte verstehen

Jeden dritten Mittwoch im Monat trifft sich eine Gruppe, die die in Vergessenh­eit geratene Schrift nicht nur lesen und schreiben lernt.

- VON HENDRIK GAASTERLAN­D UND JANA BAUCH (FOTOS)

Maria Alexander lernte die Sütterlins­chrift ein halbes Jahr lang in der Schule. Das war im Jahr 1941. Ihre Eltern schrieben ausschließ­lich in der speziellen Form der deutschen, heute in Vergessenh­eit geratenen Kurrentsch­rift. „Wenn meine Eltern damals einen Brief aufgegeben haben und der kam wieder zu uns zurück, dann wussten wir, dass der Postbote, der die Sütterlins­chrift lesen konnte, im Urlaub war. Er war nämlich der Einzige“, erzählt die Rentnerin aus ihrer Kindheit. Mehr als 70 Jahre später drückt Maria Alexander nicht wieder die Schulbank, aber sie beschäftig­t sich ein weiteres Mal in ihrem Leben mit der nicht gewöhnlich­en Schrift: Jeden dritten Mittwoch im Monat besucht sie im „Zentrum plus“in Holthausen von 17 bis 18.30 Uhr einen SütterlinK­urs.

Der Kurs, es kommen regelmäßig zwischen zehn und 15 Teilnehmer, startete vor rund zwei Jahren. „Einige hatten schon Vorkenntni­sse, andere kamen als absolute Anfänger“, berichtet Leiterin Ute Frank. Sie möchte in den 90 Minuten nicht die Lehrerin spielen, sondern sieht sich eher als Moderatori­n der Gruppe. „Die Teilnehmer können Sütterlin ja auch viel besser als ich“, sagt Ute Frank und lacht. Für die Kursteilne­hmer ist die Auffrischu­ng oder das Erlernen der Schrift teilweise eine Reise in die Vergangenh­eit. Sie verbinden Sütterlin mit Erinnerung­en von früher, mit ihrem Zuhause, aus ihrer Heimat. „Ich habe ein altes Postkarten­album meiner Oma, aber leider konnte ich die Karten von Freunden und Bekannten nicht lesen, weil alles auf Sütterlin geschriebe­n war. Deshalb wollte ich die Schrift schon immer lesen können“, sagt Hannelore Stanowsky, die deshalb den Kurs besucht: „Außerdem ist es – wenn ich dazu im Vergleich die ungelenke Schrift meiner Kinder heutzutage sehe – eine sehr schöne Schrift.“

Der einzige Mann der Gruppe ist Rainer Winkels. Er ist seit Anfang an dabei, auch um im Rentenalte­r aktiv im Kopf zu bleiben. „Man entwickelt Fähigkeite­n, an die man vorher nicht gedacht hätte. Sich zu artikulier­en, frei zu sprechen oder Gedichte zu schreiben“, erzählt der 74Jährige: „Und man lernt mit Sütterlin geschichtl­iche Zusammenhä­nge kennen, die bis zu 5000 Jahre vor Christi zurückreic­hen.“

Auf den ersten Blick wirkt die Gruppe wie ein eingeschwo­rener Haufen. Es wird zusammen gelernt, bei Kaffee und Plätzchen auch viel gemeinsam gelacht. „Wir freuen uns aber über jeden Neuen, auch wenn er keine Vorkenntni­sse besitzt. Die Gruppe nimmt jeden gerne in ihren Kreis auf und hilft. Dann wächst man schnell bei uns hinein“, sagt Ute Frank, die nicht nur Texte auf Sütterlin einfach schreiben und lesen lässt, sondern die Kursteilne­hmer immer wieder zu neuen Themen spielerisc­h an die Schrift heranführt: „Wir spielen dann zum Beispiel Stadt-Land-Fluss in Sütterlin.“

Damit das Gelernte zwischen den Terminen nicht wieder schnell vergessen wird, gibt Ute Frank allen auch Hausaufgab­en auf – dann ist sie doch ein bisschen die Lehrerin. „Man sollte zu Hause regelmäßig üben, weil Sütterlin nicht einfach ist. Für mich persönlich ist es eine schöne Art zu schreiben, fast etwas Meditative­s. Man muss sich zwar konzentrie­ren, aber gönnt sich auch Ruhe.“Die Teilnehmer befolgen den Tipp der Kursleiter­in und machen nicht nur ihre Hausaufgab­en. Sie sind von der Schrift so eingenomme­n, dass sie zum Üben in Sütterlin ihre Einkaufsze­ttel schreiben oder Kreuzwortr­ätsel lösen.

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An jedem dritten Mittwoch in Monat besucht Ingrid Mittag den Sütterlin-Kurs im „Zentrum plus“in Holthausen. Dann nimmt sie sich nie etwas anderes vor.
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Es benötigt schon etwas Übung, um die in Vergessenh­eit geratene Schrift lesen und schreiben zu können.
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