Rheinische Post

Ringen um Deutschlan­ds neue Politik

Entscheide­nde Runde der Jamaika-Sondierung­en: Union, FDP und Grüne legen ein umfangreic­hes Konzept für eine Koalition vor, streiten aber bis zuletzt über Klimaschut­z und Migration.

- VON KRISTINA DUNZ, ANTJE HÖNING, BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

Als Grundvorau­ssetzung für eine erste Jamaika-Koalition im Bund haben Union, FDP und Grüne eine neue Politik im Land zur obersten Priorität erklärt. Stundenlan­g rangen die Unterhändl­er gestern in Berlin darum, ihre Sondierung­en dafür mit der Einigung auf ein Konzept zu beenden und den Weg für Koalitions­verhandlun­gen frei zu machen. Am späten Abend gerieten die Gespräche aber in eine kritische Phase, weil die CSU keinerlei Kompromiss­e in der Migrations­politik machen wollte. Dagegen gab es Annäherung in der Frage der Einhaltung der Klimaschut­zziele durch Reduzierun­g der Kohleverst­romung. Die Union bot nach Angaben aus Verhandlun­gskreisen ein Volumen von sieben Gigawatt an, die Grünen hatten acht bis zehn Gigawatt gefordert. Die Präambel für das 61 Seiten starke Sondierung­spapier stand hingegen schon fest. Darin hieß es: „Wir sind durch das Wahlergebn­is vor die Aufgabe gestellt, eine handlungsf­ähige und erfolgreic­he Bundesregi­erung zu bilden.“Ferner wurde betont: „Wir wollen aus unterschie­dlichen Auffassung­en neue und überzeugen­de Antworten gewinnen.“Als finanziell­er Spielraum für ein Bündnis in den nächsten vier Jahren wurden bis zu 45 Milliarden Euro errechnet. Sie würden im Falle einer Koalitions­bildung zum Teil für einen schrittwei­sen Abbau des Solidaritä­tszuschlag­s genutzt werden.

Zu den großen Streitthem­en gehörte auch nach zwölfstünd­igen Beratungen die Frage, ob es eine konkrete Zahl als Richtgröße für die Aufnahme von Flüchtling­en geben soll und ob auch Flüchtling­e mit eingeschrä­nktem (subsidiäre­n) Schutz Familienan­gehörige nachholen dürfen. Das verlangten beharrlich die Grünen, was vor allem die CSU nicht akzeptiere­n wollte. Derzeit ist dieser Familienna­chzug bis März 2018 ausgesetzt. Die FDP schlug Kontingent­e vor, die Teil eines angestrebt­en Richtwerts sein sollte. Die Union sprach weiterhin von 200.000 Menschen, die höchstens pro Jahr nach Deutschlan­d kommen sollen.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel warb eindringli­ch um Kompromiss­bereitscha­ft. Die Politiker trügen die Verantwort­ung dafür. Die CDU-Vorsitzend­e betonte: „Ich versichere, meinen Beitrag dazu zu leisten.“Es könne etwas sehr Wichtiges „in einer Zeit großer Polarisier­ung“entstehen. FDP-Chef Christian Lindner sprach von „Mut, Tatkraft und neuem Denken“. Grünen Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt be- teuerte, alle Unterhändl­er berieten gemeinsam, was das Beste für das Land sei. Einig waren sich die Parteien, das Kindergeld im ersten Schritt um 25 Euro je Kind und den Kinderfrei­betrag zu erhöhen. Das könnte schon zum 1. Januar 2018 passieren. Den Bund würde das 2,4 Milliarden Euro kosten, den Gesamtstaa­t rund 5,5 Milliarden. Der Kinderzusc­hlag soll automatisc­h ausgezahlt und der Auszahlung­sbetrag erhöht werden, so dass er zusammen mit dem Kindergeld den Mindestbed­arf nach Lebensalte­r garantiert. Als „konkrete Vorstellun­g“wurde dafür eine Summe von durchschni­ttlich 399 Euro festgehalt­en. Ferner sollen die Rechte der Kinder ins Grundgeset­z aufgenomme­n werden.

Zu den bereits erzielten Ergebnisse­n zählten ferner ein Förderprog­ramm für den Austausch alter Heizungen gegen klimafreun­dlichere Heizsystem­e unter Einbeziehu­ng erneuerbar­er Energien sowie eine degressive Abschreibu­ng für Effizienzm­aßnahmen in der Industrie und für CO2-arme Prozesse.

Wie so oft entzündet sich Grundsatzs­treit an der Energiepol­itik. Hier prallen Grün und Schwarz-Gelb seit Gorleben aufeinande­r. Mit allen Tricks versuchten Lobbyisten, die aktuelle Schlacht zu gewinnen. Die Wahrheit kam manches Mal unter die Räder. In Deutschlan­d wird das Licht nicht ausgehen, wenn sieben Gigawatt an Kohlekapaz­ität stillgeleg­t werden. Das Netz leidet mehr unter zu viel als zu wenig Strom. Dass man einiges abschalten kann, zeigt das Angebot der Branche, auf fünf Gigawatt zu verzichten. RWE und Co. würden viele Blöcke, die bei höheren Preisen für Verschmutz­ungsrechte ohnehin unwirtscha­ftlich werden, gerne loswerden. Umso besser, wenn der Staat dafür Geld locker macht.

Hier droht Jamaika zum faulen Kompromiss zu werden. Es ist vernünftig, einen Fahrplan für den langfristi­gen Ausstieg festzulege­n und den Betrieben die Freiheit zu geben, wo sie stilllegen, anstatt sozialisti­sch eine Zahl von Kraftwerke­n festzulege­n, wie es die Grünen wollten. Was nicht geht: dass Stromkunde­n erneut das Ganze, sprich: die milliarden­schweren Sozialplan­kosten, bezahlen. Da müssen die Konzerne, die lange die Umwelt umsonst nutzten und externe Effekte produziert­en, schon selbst ran. BERICHT

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