Ringen um Deutschlands neue Politik
Entscheidende Runde der Jamaika-Sondierungen: Union, FDP und Grüne legen ein umfangreiches Konzept für eine Koalition vor, streiten aber bis zuletzt über Klimaschutz und Migration.
Als Grundvoraussetzung für eine erste Jamaika-Koalition im Bund haben Union, FDP und Grüne eine neue Politik im Land zur obersten Priorität erklärt. Stundenlang rangen die Unterhändler gestern in Berlin darum, ihre Sondierungen dafür mit der Einigung auf ein Konzept zu beenden und den Weg für Koalitionsverhandlungen frei zu machen. Am späten Abend gerieten die Gespräche aber in eine kritische Phase, weil die CSU keinerlei Kompromisse in der Migrationspolitik machen wollte. Dagegen gab es Annäherung in der Frage der Einhaltung der Klimaschutzziele durch Reduzierung der Kohleverstromung. Die Union bot nach Angaben aus Verhandlungskreisen ein Volumen von sieben Gigawatt an, die Grünen hatten acht bis zehn Gigawatt gefordert. Die Präambel für das 61 Seiten starke Sondierungspapier stand hingegen schon fest. Darin hieß es: „Wir sind durch das Wahlergebnis vor die Aufgabe gestellt, eine handlungsfähige und erfolgreiche Bundesregierung zu bilden.“Ferner wurde betont: „Wir wollen aus unterschiedlichen Auffassungen neue und überzeugende Antworten gewinnen.“Als finanzieller Spielraum für ein Bündnis in den nächsten vier Jahren wurden bis zu 45 Milliarden Euro errechnet. Sie würden im Falle einer Koalitionsbildung zum Teil für einen schrittweisen Abbau des Solidaritätszuschlags genutzt werden.
Zu den großen Streitthemen gehörte auch nach zwölfstündigen Beratungen die Frage, ob es eine konkrete Zahl als Richtgröße für die Aufnahme von Flüchtlingen geben soll und ob auch Flüchtlinge mit eingeschränktem (subsidiären) Schutz Familienangehörige nachholen dürfen. Das verlangten beharrlich die Grünen, was vor allem die CSU nicht akzeptieren wollte. Derzeit ist dieser Familiennachzug bis März 2018 ausgesetzt. Die FDP schlug Kontingente vor, die Teil eines angestrebten Richtwerts sein sollte. Die Union sprach weiterhin von 200.000 Menschen, die höchstens pro Jahr nach Deutschland kommen sollen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel warb eindringlich um Kompromissbereitschaft. Die Politiker trügen die Verantwortung dafür. Die CDU-Vorsitzende betonte: „Ich versichere, meinen Beitrag dazu zu leisten.“Es könne etwas sehr Wichtiges „in einer Zeit großer Polarisierung“entstehen. FDP-Chef Christian Lindner sprach von „Mut, Tatkraft und neuem Denken“. Grünen Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt be- teuerte, alle Unterhändler berieten gemeinsam, was das Beste für das Land sei. Einig waren sich die Parteien, das Kindergeld im ersten Schritt um 25 Euro je Kind und den Kinderfreibetrag zu erhöhen. Das könnte schon zum 1. Januar 2018 passieren. Den Bund würde das 2,4 Milliarden Euro kosten, den Gesamtstaat rund 5,5 Milliarden. Der Kinderzuschlag soll automatisch ausgezahlt und der Auszahlungsbetrag erhöht werden, so dass er zusammen mit dem Kindergeld den Mindestbedarf nach Lebensalter garantiert. Als „konkrete Vorstellung“wurde dafür eine Summe von durchschnittlich 399 Euro festgehalten. Ferner sollen die Rechte der Kinder ins Grundgesetz aufgenommen werden.
Zu den bereits erzielten Ergebnissen zählten ferner ein Förderprogramm für den Austausch alter Heizungen gegen klimafreundlichere Heizsysteme unter Einbeziehung erneuerbarer Energien sowie eine degressive Abschreibung für Effizienzmaßnahmen in der Industrie und für CO2-arme Prozesse.
Wie so oft entzündet sich Grundsatzstreit an der Energiepolitik. Hier prallen Grün und Schwarz-Gelb seit Gorleben aufeinander. Mit allen Tricks versuchten Lobbyisten, die aktuelle Schlacht zu gewinnen. Die Wahrheit kam manches Mal unter die Räder. In Deutschland wird das Licht nicht ausgehen, wenn sieben Gigawatt an Kohlekapazität stillgelegt werden. Das Netz leidet mehr unter zu viel als zu wenig Strom. Dass man einiges abschalten kann, zeigt das Angebot der Branche, auf fünf Gigawatt zu verzichten. RWE und Co. würden viele Blöcke, die bei höheren Preisen für Verschmutzungsrechte ohnehin unwirtschaftlich werden, gerne loswerden. Umso besser, wenn der Staat dafür Geld locker macht.
Hier droht Jamaika zum faulen Kompromiss zu werden. Es ist vernünftig, einen Fahrplan für den langfristigen Ausstieg festzulegen und den Betrieben die Freiheit zu geben, wo sie stilllegen, anstatt sozialistisch eine Zahl von Kraftwerken festzulegen, wie es die Grünen wollten. Was nicht geht: dass Stromkunden erneut das Ganze, sprich: die milliardenschweren Sozialplankosten, bezahlen. Da müssen die Konzerne, die lange die Umwelt umsonst nutzten und externe Effekte produzierten, schon selbst ran. BERICHT