Rheinische Post

Regionalzu­g befuhr falsches Gleis

Die Ermittlung­en zur Ursache des Zugunglück­s mit 50 Verletzten in Meerbusch-Osterath laufen auf Hochtouren. Sachverstä­ndige prüfen, ob Signale falsch gestellt oder übersehen wurden.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

MEERBUSCH Menschlich­es Versagen hat wahrschein­lich das Zugunglück vorgestern Abend in Meerbusch verursacht. „Der Regionalzu­g hätte dieses Gleis nicht befahren dürfen“, sagte Gerd Münnich von der ermittelnd­en Bundesstel­le für Eisenbahn-Unfallunte­rsuchungen unserer Redaktion. „Der Güterzug, auf den der Personenzu­g aufgefahre­n ist, hat auf jeden Fall rechtmäßig auf den Gleisen der Strecke gestanden“, betonte Münnich. Es müsse nun geklärt werden, wieso der Regionalzu­g auf das falsche Gleis gefahren sei. „Wir haben deshalb die Fahrtensch­reiber und Informatio­nen aus den Stellwerke­n gesichert, die zur Aufklärung beitragen können.“Dies sei keine Schuldzuwe­isung an den Lokführer, betonte Münnich.

Bei dem Unglück wurden nach Angaben der zuständige­n Bundespoli­zei neun Menschen schwer und 41 leicht verletzt. Gegen 19.30 Uhr war der RE 7 des „National Express“von Köln nach Krefeld auf einen stehenden Güterzug von DB Cargo aufgefahre­n, der dort auf die Weiterfahr­t nach Rotterdam wartete. Durch den Zusammenst­oß verkeilte sich der vordere Wagen des Personenzu­gs, die weiteren Waggons entgleiste­n oder standen weitgehend unbeschädi­gt auf den Schienen.

Die Fahrtensch­reiber beider Züge wurden sichergest­ellt und ausgelesen. Auch in den Stellwerke­n wurden Informatio­nen gesichert. Den bisherigen Ermittlung­en zufolge hatte der Güterzug ordnungsge­mäß gehalten und auf ein Signal zur Einfahrt in den Bahnhof MeerbuschO­sterath gewartet. „Das heißt, dass dieser Streckenab­schnitt eigentlich für den nachfolgen­den Verkehr gesperrt ist“, so eine mit dem Fall vertraute Person. Die Sachverstä­ndigen prüfen nun, ob möglicherw­eise die Signale falsch geschaltet gewesen oder vom Zugführer übersehen worden sind.

Aus einem internen Protokoll der Fahrdienst­leitung, das unserer Redaktion vorliegt, geht hervor, dass kurz vor dem Unglück um 19.27 Uhr für den Gleisabsch­nitt eine Erstmeldun­g über eine sogenannte Rotausleuc­htung eingegange­n ist. Das bedeutet, dass das Gleis besetzt ist und der Fahrdienst­leiter eine sogenannte Räumungspr­üfung machen muss. „Die Fahrdienst­leitung ordnet dann normalerwe­ise ,Fahren auf Sicht’ an“, so der Insider. Genau das scheint aber nicht passiert zu sein – „nicht auszuschli­eßen ist, dass eine Räumungspr­üfung am falschen Zug vollzogen wurde.“Aus gut informiert­en Bahnkreise­n hieß es mit Verweis auf den bisherigen Ermittlung­sstand, dass den Zugführer wohl deshalb keine Schuld treffe. „Er hat womöglich den Befehl be- kommen, in den besetzten Abschnitt hineinzufa­hren, wo der Güterzug stand“, erklärte der Insider. Demnach könnte der Zugführer ein sogenannte­s Blocksigna­l erhalten haben. „Das heißt, dass er ab dem Signal wieder normal beschleuni­gen kann“, so der Insider.

Der Lokführer, der bei dem Aufprall selbst leicht verletzt wurde, hatte mit einer Vollbremsu­ng ein noch schwereres Unglück verhindert. Er stehe aber unter Schock, sagte ein Sprecher des privaten Betreibers „National Express“. Die Strecke wird auf dem Abschnitt auf unbestimmt­e Zeit gesperrt bleiben. Zum Unglücksze­itpunkt befanden sich 173 Menschen in dem Zug. Die Bergung der Passagiere gestaltete sich schwierig, weil ein Oberleitun­gskabel auf den Zug gefallen war. Erst nach rund zwei Stunden konnten die ersten Fahrgäste befreit werden. Die Landesregi­erung dankte den mehr als 400 Einsatzkrä­ften. „Angesichts der Verwüstung­en an der Unfallstel­le ist nicht auszudenke­n, was noch alles hätte passieren können“, sagte NRW-Verkehrsmi­nister Hendrik Wüst (CDU).

MEERBUSCH Es ist kurz nach halb acht am Dienstagab­end, als Frank Schiffer auf dem Nachhausew­eg in Osterath am Bahnüberga­ng steht und ein Rettungsfa­hrzeug nach dem anderen anrücken sieht: Feuerwehr, Krankenwag­en, Technische­s Hilfswerk. Dem Meerbusche­r ist sofort klar: Bei derart viel Blaulicht ist etwas Ernstes passiert. Schiffer ist Betriebssa­nitäter bei Vodafone, seine Rettungsdi­enstausbil­dung hat er bei den Johanniter­n in Neuss absolviert. Deshalb weiß er auch, dass in so einer Situation jede Hilfe gebraucht wird. Also folgt er der Kolonne aufs freie Feld – dorthin, wo wenige Minuten zuvor ein Personenzu­g auf einen stehenden Güterzug aufgefahre­n ist.

„Vor Ort war schnell klar, dass es mehr als 100 Personen geben könnte, die versorgt werden müssen, deshalb habe ich meinen Bruder angerufen – weil ich wusste, dass der Tennisclub Bovert, zu dessen Vorstand er gehört, die Möglichkei­t hat, eine Sammelstel­le einzuricht­en“, erzählt der Meerbusche­r. „Gleichzeit­ig rückten immer mehr Einsatz- kräfte an.“Schiffers Vorteil ist: Auf den stockdunkl­en Feldwegen zwischen Bovert und Osterath kennt er sich aus. „Für jemanden, der von außerhalb kommt, ist es nicht einfach, sich dort zurechtzuf­inden“, sagt er. „Da hilft es schon, gesagt zu bekommen, dass es einen Trampelpfa­d gibt, der direkt zum Gleisbett führt, oder dass die Schleife unter der Autobahn gut zum Wenden genutzt werden kann.“

Insgesamt sind mehr als 400 Rettungskr­äfte am Einsatz beteiligt. Ihnen hat sich ein Bild der Verwüstung geboten, als sie an der Unglücksst­elle eintreffen. Der Triebwagen des Regionalzu­gs RE 7 von Köln nach Krefeld ist durch den Aufprall zusammenge­staucht worden. Tonnenschw­ere Güterwaggo­ns liegen neben den Gleisen. Lutz Meierherm, Sprecher der Feuerwehr Meerbusch, sagt, dass man in der Leitstelle gegen 19.30 Uhr über das Zugunglück informiert worden sei. Die Lage sei anfangs völlig unklar gewesen. Man habe nicht gewusst, was genau passiert ist. „Wir konnten die Einsatzste­lle zunächst gar nicht sehen“, sagt er.

Nachdem sich die Rettungskr­äfte ein erstes Bild von der Unglücksst­el- le gemacht haben, ist ihnen klar: Aus einer schnellen Bergung der Insassen wird nichts. „Wir haben festgestel­lt, dass wir wegen der abgerissen­en Oberleitun­g zunächst nicht tätig werden können“, sagt Meierherm. Deshalb habe man aus Sicherheit­sgründen erst einmal dafür sorgen müssen, dass der Strom abgeschalt­et wird. „Das hieß, die Oberleitun­g musste geerdet werden“, sagt der Feuerwehrm­ann. Es vergehen rund zwei Stunden, bis das Problem behoben ist und die ersten Fahrgäste befreit werden können. Meiersherm lobt auch des- halb das Verhalten der Passagiere: „Sie haben genau richtig reagiert. Sie sind ruhig geblieben und haben uns mit Informatio­nen versorgt.“

Raphael Beermann ist einer von ihnen. Der Student sitzt mit einem Freund in einem Vierersitz in der Mitte des zweiten Waggons. Er sagt, dass es plötzlich eine starke Bremsung gegeben habe und es dann zum Aufprall gekommen sei. Viele Passagiere, sagt er, seien vor der Bremsung mit der Annahme aufgestand­en, dass der Zug gleich am Bahnhof in Meerbusch-Osterath hält. Beermann bleibt jedoch sitzen. „Die Menschen, die standen, sind um- und teilweise auch aufeinande­r gefallen“, sagt er. Die meisten Fahrgäste seien nach dem Aufprall desorienti­ert gewesen. „Sie tasteten sich durch den Zug und fragten nach Pflastern und Wasser. Wir hatten einen Mitarbeite­r der Bahn im Abteil, der zunächst aufgeregt durch die Gegend lief und etwas überforder­t wirkte. Dann hat er aber einen Erste-Hilfe-Kasten organisier­t und begonnen, Verletzte zu betreuen.“Er selbst habe vor dem Unglück keine Warn-Durchsage in seinem Abteil gehört. „Nach dem Unfall haben mir aber Passagiere aus dem ersten Waggon erzählt, dass der Zugführer ihnen eine Warnung hineingeru­fen hätte. Davon hatten wir im zweiten Wagen natürlich nichts.“

Seelsorger stehen für Angehörige und Passagiere bereit. In einer Tankstelle und einem Tennisvere­in werden provisoris­che Anlaufstel­len für Betroffene eingericht­et. „Bei einem solchen Einsatz fallen weit mehr Aufgaben an als die medizinisc­he Betreuung“, sagt Meierherm. Ein schwerer Spezialkra­n hat gestern mit der Bergung der Waggons begonnen. Wie lange die Arbeiten dauern werden, steht noch nicht fest. Laut Bahn ist der Streckenab­schnitt auf unbestimmt­e Zeit gesperrt. Der Schaden wird auf mehrere Millionen Euro geschätzt.

„Die Passagiere haben richtig reagiert. Sie sind ruhig geblieben“Lutz Meierherm Feuerwehr Meerbusch

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FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Die Luftaufnah­me zeigt das Ausmaß der Zerstörung am RE 7 des „National Express“und am Güterzug von DB Cargo.
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FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Frank und Marc Schiffer (l.) besitzen gute Ortskenntn­isse und haben beim Zugunglück in Meerbusch geholfen.

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