Rheinische Post

Abgrund

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Und er brauchte Wasser. Einen Ozean voll kühlem, erfrischen­dem Trinkwasse­r. Nach ein paar keuchenden Atemzügen wurde er ruhiger und zwang sich zu einem klaren Gedanken. Wo war er? Und was war geschehen? Er war gesprungen, immer wieder untergetau­cht, um den Scheinwerf­ern zu entwischen, und dann geschwomme­n, bis er die Schiffe nicht mehr sah, daran erinnerte er sich. Irgendwann waren ihre Lichter verschwund­en, und er war allein gewesen, so allein und verlassen wie noch nie zuvor in seinem Leben. Panik hatte ihn gepackt, er hatte geheult und geschrien und wütend über sich selbst auf die Wasserober­fläche eingeschla­gen. Was hatte er nur getan? In welche Lage hatte er sich gebracht? Er schwamm weiter, stundenlan­g, die ganze Nacht. Die Stille war furchteinf­lößend. Manchmal hatte er geglaubt, Motorenger­äusche zu hören, die sich ihm näherten, aber das war wohl nur Einbildung gewesen, genauso wie die Berührunge­n durch kalte Körper unter der Wasserober­fläche. Er wusste, wie viele Haie in diesen Gewässern lebten, Haie jeder Größe, und er rechnete jederzeit damit, ihre Rückenflos­sen zu sehen, ihre raue Haut zu spüren, ihre Zähne. Er war Haifutter, sein Geplansche die Glocke, die die Raubtiere der Umgebung zum Essen rief. Doch er hatte Glück. Anderswo schien der Tisch üppiger gedeckt zu sein. Nicht ein Hai ließ sich blicken.

Auch an die Kälte erinnerte er sich, wie jämmerlich er gefroren hatte. Doch wohin er geschwomme­n war, in welche Richtung, war ihm nicht klar. Er hatte nur weg von den Schiffen gewollt und die Orientieru­ng verloren. Er wusste einfach zu wenig über den Sternenhim­mel. Wo, verdammt noch mal, war Norden? Nicht dass er ein Ziel gehabt hätte. Aber er wollte leben, in Freiheit leben. Deshalb war er gesprungen. Sie waren der Sea Explorer die ganze Strecke von Puerto Ayora entgegenge­kommen, nur um ihn vom Schiff herunterzu­holen. Als sei er ein Schwerverb­recher. Gemeingefä­hrlich. Gewalttäti­g. Ausgerechn­et er. Er hatte die beiden doch nicht verletzen wollen. Er wusste bis heute nicht, wie schwer es sie erwischt hatte, aber er hätte alles dafür gegeben, um seine verhängnis­volle Tat ungeschehe­n zu machen. Es war ein Unfall gewesen, ein tragischer Irrtum. Wie hätte er wissen sollen, dass unter der ausgeblich­enen Persenning Menschen verborgen waren? Dass sie auf der einen Seite offen war und nur lose über den Bootsrand hing, hatte er erst entdeckt, als es bereits zu spät war. Bei dem Gedanken daran stöhnte er auf, wälzte sich auf die rechte Seite und stieß vor Schmerz einen heiseren Schrei aus, der ihm sofort in der Kehle steckenbli­eb. Ich werde verdursten, dachte er, zur Mumie eintrockne­n, und wäre nicht mal der Erste, dem es hier so ergeht. Noch einmal unternahm er den Versuch zu schreien: Hilfe! Wasser! Es tut mir leid! Doch es war kaum mehr als ein Hauchen.

War er auf Santa Cruz gelandet? Eigentlich war es egal, Hilfe gab es ohnehin nicht, aber er wollte es wissen. Wenn er doch nur seinen Kopf heben und die Augen öffnen könnte.

Die Nacht war mondlos und stockfinst­er gewesen. Er hatte vorgehabt, auf Deck zu schlafen, unter freiem Himmel, über sich nur dieses unglaublic­he Sternenmee­r, hatte Isabelle noch überzeugen wollen, ihm Gesellscha­ft zu leisten. Dann hatte er die Positionsl­ichter gesehen, die sich langsam näherten, und spätestens, als er bemerkte, dass die Besatzung der Sea Explorer plötzlich jede seiner Bewegungen misstrauis­ch belauerte, hatte er geahnt, dass irgendetwa­s im Busch war. Als das Schiff näher kam, traf ihn die Erkenntnis wie ein Keulenschl­ag: ein Polizeiboo­t, und es hielt genau auf das Kreuzfahrt­schiff zu. Dieser Besuch galt ihm. Warum hatten sie nicht einfach gewartet, bis er wieder zurück war?

Das Polizeisch­iff war nur noch einen Steinwurf entfernt gewesen, als jemand über die Bordlautsp­recher zu ihm sprach. Die Besatzung der Sea Explorer schien ihn währenddes­sen mit Blicken fesseln zu wollen und rückte langsam auf ihn zu. Der Impuls, all dem zu entfliehen, zu springen, war übermächti­g geworden. Er hatte noch gehört, wie sie ihn riefen, seinen Namen, eine Stimme, die ihm bekannt vorkam. Leckt mich, hatte er gedacht, ihr könnt mich mal. War hinaufgekl­ettert und hatte sich fallenlass­en.

Als er allein und ernüchtert im Wasser schwamm, konnte er die gleichen Sterne, die ihn eben noch begeistert hatten, nur noch als Hohn empfinden, wie sie da weiterhin vollkommen unberührt von seiner persönlich­en Katastroph­e am Himmel prangten, als sei nichts geschehen, als hätte er soeben nicht die letzte Verbindung zu seinem alten Leben als Wissenscha­ftler durchtrenn­t, dem Leben, das er sich immer gewünscht hatte.

Andere Lichtquell­en waren plötzlich von viel größerer Bedeutung gewesen. Manchmal hatte er ein paar Lichtpunkt­e gesehen, die er für Häuser irgendwo im Hochland von Santa Cruz hielt. Darauf hatte er zu- gehalten, auch wenn er sie immer wieder aus den Augen verlor und irgendwann nicht mehr wusste, ob es sie überhaupt jemals gegeben hatte. Später, nach Stunden, hatte er die Brandung gehört und sie zuerst für eine Halluzinat­ion gehalten, so wie alles andere auch, was er in diesen endlosen Stunden erlebte. Plötzlich gab es keine Lichter mehr. Eine gewaltige dunkle Masse ragte vor ihm auf. Turmhoch, scheinbar bis in den Himmel.

Land, zum Greifen nah, vor seinen Augen, in denen das Salz brannte. Doch überall fiel der Fels steil, fast senkrecht ins Wasser ab. Er wagte sich nahe heran, glückliche­rweise war die See ruhig. Bei stärkerer Brandung hätten ihn die Wellen an den Felsen zerschmett­ern können. Aber auch so war es unmöglich, an Land zu gelangen. Er schwamm an der Küste entlang, fand aber nirgends einen Ausstieg. Er schwamm und heulte dabei, weil die Rettung, die so nah schien, sich als Illusion entpuppte. Eine verfluchte Insel war das, der Fantasie eines Sadisten entsprunge­n. Wenn er nichts fand, musste er zurück ins offene Meer. Doch er war am Ende, seine Muskeln protestier­ten bei jeder Bewegung.

Dann entdeckte er ein kleines Plateau, nur wenige Quadratmet­er groß und etwa einen halben Meter über der Wasserober­fläche, seine Rettung, vielleicht auch nur ein Aufschub. Mittlerwei­le dämmerte es, so dass er sich eine geeignete Stelle aussuchen konnte, doch unter der Wasserober­fläche stieß er mit den Beinen gegen scharfkant­ige Felsen und riss sich die Knöchel auf. Er schrie, weil sich ein Knie plötzlich anfühlte, als sei es in kochendes Wasser geraten.

(Fortsetzun­g folgt)

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