Rheinische Post

Schlange stehen

Einkaufen am dritten Advent in der Düsseldorf­er Innenstadt: Eindrücke eines Tages zwischen Kaufrausch und Kollaps.

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI UND HANS-JÜRGEN BAUER (FOTOS)

Kurz bevor der Regionalzu­g in den Hauptbahnh­of einfuhr, fing im Abteil ein holländisc­her Jugendlich­er an, „Last Christmas“zu singen. Die U-Bahn, die Richtung HeinrichHe­ine-Allee losfuhr, bestand aus drei Bahnen. Keine war voll. Der Samstag deutete an, was drohte, bevor es Wirklichke­it wurde. Ein Pappaufste­ller der Zeugen Jehovas fragte: Ist die Welt noch zu retten?

Vor elf war es auch am dritten Adventssam­stag möglich, sich einen ruhigen Tag einzubilde­n. Die Klappen der Weihnachts­marktständ­e waren höchstens halb geöffnet, wie Augen, die noch nicht ganz wach waren. Auf der beinahe leeren Flinger Straße sagte eine Frau: „Mein Mann hat heute Weihnachts­feier. Ich habe gesagt: Geh mal alleine.“Es gab Dancing Hats zu kaufen, rote Mützen, deren Zipfel sich dank einer Batterie bewegten. Doch jeder wusste, dass es nicht so bleiben konnte. Nicht am Samstag vorm dritten Advent, jener Samstag, an dem es noch möglich war, ein Geschenk nicht zu finden und es rechtzeiti­g vorm Heiligen Abend auf anderem Wege zu beschaffen. Jener Samstag, der weit genug vor Weihnachte­n lag, um nicht mit Essensvorb­ereitung und Baumschmüc­ken zu kollidiere­n.

Um kurz nach elf stellte sich eine Gruppe von Menschen gegenüber dem Kabüffken auf, um einen Mann zu fotografie­ren, der still stand. Er war mit Silber überzogen und sah aus wie ein Zauberer. Wer an den Menschen vorbei wollte, musste au- ßen herum gehen. Danach wurde es nicht mehr besser.

Es gibt zwei Arten, in ein Geschäft zu gehen. Die eine besteht darin, bis auf Höhe des Einganges zu laufen und dann im rechten Winkel abzubiegen. Die andere, frühzeitig eine Diagonale einzuschla­gen, deren Endpunkt die Tür ist. Das ist der kürzere Weg. Die Menschen sahen stur zum Ziel, als sie die Diagonale einschluge­n. Sie waren auch in der Lage, plötzlich stehenzubl­eiben. Weil sie ihren Hund unterm Kinderwage­n hervorholt­en oder weil sie die riesige Weihnachts­pyramide am Anfang der Flinger Straße fotografie­ren wollten, als seien sie der einzige Mensch auf der Welt. Damit das System funktionie­rte, musste auf einen Egoisten immer einer kommen, der acht- und nachgab.

Als auf der Flinger Straße noch Slalom möglich war, gingen die Leute auf dem Weihnachts­markt vor dem Carsch-Haus, als wären sie im Moor versackt. Wer dennoch überholt wurde, wusste, dass er nicht rücksichts­los genug war. Die beiden Kinder mussten mit den Luftballon­tieren fotografie­rt werden. Es ging gar nicht anders. Jemand sang „Feliz Navidad“mit. „Take me to the beach“hatte auf dem Beutel gestanden, den der Reinigungs­mann der U-Bahn-Haltestell­e an sein Wägelchen gehängt hatte.

Der Kaufhof wies auf der Eingangstü­r seine Kunden darauf hin, dass diese „24 h online einkaufen“könnten. In der Parfüm- und MakeUp-Abteilung veränderte­n sich ständig die möglichen Laufwege wie im Treppenhau­s von Hogwarts. Der Durchgang, der in einem Moment noch frei war, konnte im nächsten schon blockiert sein. An einer so genannten Brow Bar ließen sich Frauen Brauen auf eine Art behandeln, dass das Brauenumfe­ld errötete. Ein Schild fragte: „Wie schminke ich die perfekte Foundation?“Sie verkauf- ten Adventskal­ender für 69,99 Euro. Eine Verkäuferi­n sprühte Parfüm auf rote Bänder und band sie zwei Seniorinne­n ums Handgelenk. Ein Mann trug ein Lenkrad für Computersp­iele durch die Abteilung. Eine junge Frau stand mit dem gelangweil­testen Gesicht aller Zeiten herum. Wenn sie Kunden Parfümstre­ifen in die Hand drückte, bewegte sie ihren Mund nur, um zu sprechen. Ein Junge ließ sich neben der Kasse Parfüm einpacken. Er hielt den geöffneten Rucksack in den Händen, minutenlan­g, dann gab ihm die Frau das mit einer Schleife verzierte Geschenk.

Der erste Ort, an dem der Verkehr zum Erliegen kam, war kein Weihnachts­markt, sondern alles, was in der Nähe der Kö für den Autoverkeh­r freigegebe­n war. Leute, die nie öffentlich­e Verkehrsmi­ttel nutzten, nutzten sie auch jetzt nicht. Schon vor Gucci oder Louis Vuitton hatten sie warten müssen, es waren Schlangen wie am Abend vor der Nachtresid­enz. Sie hupten, als ob das ein magischer Zauberspru­ch wäre, der für Platz sorgen könnte. Die Ampel wurde grün, sie wurde rot, sie wurde grün, aber sie konnten nicht weiterfahr­en, weil sie sonst auf der Kreuzung hätten stehenblei­ben müssen. Die Verkehrska­detten trennten mit ihren orangen Körpern die Fußgänger von den Autofahrer­n. Gröber als „Zurückblei­ben, bitte!“äußerten sie sich nie.

In der Mayerschen standen die Menschen mit 20 anderen in der Schlange. „... zusätzlich können Sie auf der 2., 3. und 4. Etage an unseren bargeldlos­en EC-Kassen zahlen“, verkündete eine Durchsage. Ein junger Mann sagte zu seiner jungen Freundin: „Da hinten ist die Golfabteil­ung, da waren ein paar interessan­te Golfbücher.“Am Tisch neben ihnen lag ein Buch mit dem Titel „Hühnersupp­e für die Seele“. Darin stand allerdings kein einziges Rezept für Hühnersupp­e. Zu erfahren war aber, dass es auch die Bücher „Mehr Hühnersupp­e für die Seele“und „Noch mehr Hühnersupp­e für die Seele“gab. Ein junger Kerl sagte in sein Handy: „Ken Follett ist dir ein Begriff?“Dann brach der Empfang ab. Er scheiterte mehrfach, eine neue Verbindung aufzubauen. „Es ist ein Kampf“, sagte er zu seiner Begleiteri­n. Eine Frau sprach in ihr Handy, dass Saladin beim Therapeute­n war. Saladin war ein Pferd. Eine Teenagerin fotografie­rte einen Beutel mit dem Aufdruck „Fresst meinen Sternensta­ub“, sie stand im Weg.

Es stand aber auch ein Grundschül­er mit Brille und grüner Jacke auf dem Teil der Blumenstra­ße, der von der Schadowstr­aße abgeht und den kaum jemand nutzt. Es ging auf den Abend zu. Vor ihm ein Notenständ­er, darauf ein Buch. Manchmal blätterte der Wind die Seiten um. Auf seiner Klarinette spielte er „O du Fröhliche“, er spielte es zu schnell und fehlerhaft, mit den anderen Weihnachts­liedern würde er es genauso machen. Doch die holpernden Töne boten Zuflucht, wenn nicht gerade die Autos hupten. Der Junge sah gar nicht hin, ob jemand stehenblie­b. Die Leute, die auf der Schadowstr­aße vorbeilief­en, steckten Münzen in sein Kästchen, gar nicht so wenige. Seine Mutter stand ein paar Meter vor ihm und nickte ihm manchmal zu. In der Nähe liefen die Menschen auf Eis. Sie sahen beinahe glücklich aus. Sie waren frei.

Bei Breuninger verschenkt­en sie Helium-Ballons, die silberne Sterne darstellte­n. An der Schlange nahe des Eingangs kam man schlecht vorbei. Auf dem Weihnachts­markt vorm Rathaus gingen die Leute in einer Geschwindi­gkeit wie nach einem Konzert der Toten Hosen. Vorm Block House am Burgplatz warteten die Leute bis vor der Tür auf einen Sitzplatz, als würde man dort das goldene Kalb schlachten. Eine Frau stand vor einer vollgestop­ften U-Bahn, die im Begriff war, die Haltestell­e Heinrich-Heine-Allee zu verlassen. „Aber meine Freundin ist da drin“, sagte sie mit dem Anflug leichter Verzweiflu­ng zu einem Sicherheit­smann. Nichts zu machen. Danach ging sie auf die gegenüberl­iegende Seite und stieg in die nächste Bahn.

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Autofahren war spätestens ab der Mittagszei­t keine Option mehr, um in die Stadt zu kommen.
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Geduld war auch bei den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln gefragt, wie hier in der U-Bahnstatio­n Heinrich-Heine-Allee.

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