Rheinische Post

Grundschul­e: NRW erwägt Kehrtwende

Die Schulminis­terin denkt über die Rückkehr der verbindlic­hen Gutachten nach.

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND FRANK VOLLMER

DÜSSELDORF In der Debatte um den Wechsel der Viertkläss­ler auf die weiterführ­enden Schulen unternimmt Nordrhein-Westfalens Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) einen weitreiche­nden Vorstoß: Sie erwägt, die Macht der Lehrer beim Übergang in die fünfte Klasse wieder zu stärken. „Mir sagen Lehrer, und zwar aus allen Schulforme­n und unaufgefor­dert: Sie wünschen sich das verbindlic­he Grundschul­gutachten zurück“, sagte Gebauer unserer Redaktion.

Das sei gerade für eine Liberale zwar eine schwierige Entscheidu­ng, fügte die Ministerin hinzu: „Ich muss die Wünsche der Schulen gegen das hohe Gut des Elternwill­ens abwägen.“Wenn aber die Schulen einen solchen Wunsch äußerten, „dann muss dies die Landesregi­e- rung aufhorchen lassen, und man sollte darüber nachdenken dürfen“.

Derzeit spricht die Grundschul­e für jeden Viertkläss­ler am Ende des ersten Halbjahres eine Empfehlung für eine weiterführ­ende Schulform aus; sie ist aber seit 2011 in Nordrhein-Westfalen nicht mehr ver- bindlich. In der vergangene­n Woche haben gut 150.000 Viertkläss­ler solche Empfehlung­en bekommen; in den kommenden Wochen und Monaten folgen die Anmeldunge­n für die weiterführ­enden Schulen.

Zwischen 2006 und 2011 galten die von der schwarz-gelben Landesregi­erung erlassenen Regeln für den Fall, dass die Eltern anderer Meinung als die Schule waren. Hatte das Kind nur eine eingeschrä­nkte Empfehlung für die angestrebt­e Schulform, etwa das Gymnasium, folgte ein verpflicht­endes Beratungsg­espräch; danach entschiede­n die Eltern. Hatte das Kind keine Empfehlung für die gewählte Schulform, musste es an einem dreitägige­n Prognoseun­terricht teilnehmen. Danach entschiede­n drei Fachleute, darunter zwei Lehrer – war mindestens einer der Meinung der Eltern, durfte das Kind die gewünschte Schulform besuchen.

Der Prognoseun­terricht betraf ein bis zwei Prozent der Viertkläss­ler; etwa ein Drittel durfte danach die höhere Schulform besuchen. Dazu, ob sie sich für Zweifelsfä­lle wieder ein solches Verfahren vorstellen könnte, äußerte sich Gebauer nicht.

„Ich muss die Wünsche der Schulen gegen den Elternwill­en abwägen“Yvonne Gebauer (FDP) Schulminis­terin

Ich weiß noch, wie es mit der Überwachun­g anfing: Ich war 13 Jahre alt und hatte mein erstes Handy – genau wie meine Freunde. Es war ungewohnt, nicht mehr zu Hause anrufen zu müssen, weshalb die erste Frage immer war: „Wo bisse?“Meistens war die Antwort: zu Hause. Bevor es Smartphone­s, Facebook und Whatsapp gab, haben wir uns zum Spielen rausgeklin­gelt oder in der Schule verabredet. Und wenn wir zu Verwandten gefahren sind und nicht pünktlich da waren, haben die sich einfach gedacht: Ach ja, Stau. Seit es Handys gibt, denken sie: Hoffentlic­h ist nichts passiert. Mit dem Handy wurde Kommunikat­ion zur Pflicht – denn nun war man ja tat- sächlich überall erreichbar. Also kann man ja wohl erwarten, dass sich der Andere meldet, wenn er im Stau steht. Gleichzeit­ig ging Verbindlic­hkeit verloren: Früher musste man pünktlich sein, wenn man sich um 15 Uhr verabredet hatte, weil der andere ja wartete. Heute kann man sich kurzfristi­g abstimmen, weil man es doch mal wieder nicht rechtzeiti­g schafft. Zuletzt ist mir aufgefalle­n, wie sehr mich diese Entwicklun­g verändert hat. Bei Whatsapp wird mit zwei blauen Haken angezeigt, ob jemand die Nachricht gelesen hat oder nicht. Manche Menschen haben das ausgestell­t – mich macht das wiederum nervös, wenn ich mit ihnen kommunizie­re, weil es sich ein Stück weit nach Kontrollve­rlust anfühlt. Bei anderen wiederum, die die blauen Haken aktiviert haben, werde ich nervös, wenn Nachrichte­n wenige Minuten später noch nicht die beiden blauen Haken haben – könnte ja was passiert sein. Ich glaube, dass dieses Gefühl auch in andere Lebensbere­iche ausstrahlt, weil die Überwachun­gstechnik uns zwar vermeintli­che Sicherheit und Kontrolle gebracht, uns aber gleichzeit­ig einer Sache beraubt hat, die meine Mutter früher Gottvertra­uen nannte. Ich wünsche mir wieder mehr davon, Smartphone hin oder her.

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FLORIAN RINKE

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