Schmerzhafter Groko-Kompromiss
Kanzlerin Merkel verlangt von allen drei Parteien weitgehende Zugeständnisse. Heute soll der schwarz-rote Koalitionsvertrag vorgestellt werden. Bonn wird Ministeriumsstandorte behalten.
BERLIN Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat bei einer Neuauflage der schwarz-roten Regierung trotz „kleinteiliger“Koalitionsverhandlungen den großen Blick auf Wohlstand und Sicherheit Deutschlands in einer unruhigen Welt angekündigt. Unter dem Eindruck des Crashs an der Wall Street und die Folgen für die europäischen Börsen sagte sie gestern bei der letzten Verhandlungsrunde: „Wir dürfen das Zentrale nicht aus dem Auge verlieren, wenn wir uns einmal die unruhigen Börsenentwicklungen der letzten Stunden anschauen.“
Am Abend sah es nach einem Durchbruch der Verhandlungen in der Nacht aus. Unklar war zuletzt noch, wie Streitthemen in der Gesundheits- und der Arbeitsmarktpolitik gelöst werden. Offen war ferner, ob die drei Parteien vor der anstehenden SPD-Mitgliederbefragung die Ministerien verteilen, wie es SPD-Chef Martin Schulz befürwortet. Für eine Teilnahme am Mitgliederentscheid lief die Frist für Neueintritte in die SPD gestern um 18 Uhr ab. Die SPD spricht von 24.339 Neuzugängen seit Neujahr. Für die Befragung der Mitglieder sind drei Wochen angesetzt. Erst nach ihrem Ja könnte – fünf Monate nach der Bundestagswahl – eine neue Regierung gebildet werden.
Merkel sagte, sowohl CDU und CSU als auch die SPD müssten schmerzhafte Kompromisse für einen Koalitionsvertrag machen, der umfangreich, detailliert und kompliziert sei. Beide Seiten hätten aber die Lebensqualität der Menschen und den erfolgreichen Wirtschaftsstandort im Auge. Schulz sagte, es gehe darum, in einer der größten Industrienationen der Welt eine stabile Regierung zu bilden.
Nach einem Entwurf des Koalitionsvertrags, der unserer Redaktion vorliegt, soll die geplante Rentenkommission ihre Empfehlungen für eine Rentenreform erst bis März 2020 vorlegen. Dazu soll ein Vorschlag gehören, welche Mindestrücklage erforderlich ist, „um die ganzjährige Liquidität der gesetzlichen Rentenversicherung zu sichern“. Ferner bleiben Union und SPD bei ihrer harten Sanktionspolitik gegen Russland. Der von der SPD angestrebte schrittweise Abbau der Strafmaßnahmen schon vor einer vollständigen Umsetzung des Minsker Friedensabkommens für die Ost-Ukraine findet sich nicht wieder. Ausgaben für die Bundeswehr und die Entwicklungshilfe sollen künftig im Verhältnis eins zu eins steigen. CDU, CSU und SPD erneuern zudem ihr Bekenntnis zum Bonn-Berlin-Gesetz, womit Bonn neben Berlin das zweite bundespo- litische Zentrum bleibt. Zugleich gibt es eine Garantie für die dortigen Ministeriumsstandorte. Ferner soll das Verhältnis des Bundes zu Bonn auf eine zusätzliche vertragliche Grundlage („Bonn-Vertrag“) gestellt und damit die Zukunft der Region sowie von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz gesichert werden.
Der Präsident des Steuerzahlerbunds, Reiner Holznagel, kritisierte, dass der Solidaritätszuschlag erst ab 2021 und nicht für alle Bürger abgeschafft werden soll. Der Solidarpakt laufe schon Ende 2019 aus. „Damit verschafft sich die Groko klammheimlich ein weiteres Polster und kassiert für 2020 nochmals gut 20 Milliarden Euro.“Der Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats, Wolfgang Steiger, sagte, die Groko breche schon vor ihrem Start mit dem Ziel, in der EU geschlossen aufzutreten. Schulz erkläre die Sparpolitik für beendet. Merkel habe in der Unionsfraktion beteuert, am Stabilitätskurs festzuhalten. Einen „Januskopf“dürfe sich Deutschland aber „in diesen verstörend unsicheren Zeiten nicht leisten“. Leitartikel Seite A 2 Politik Seite A 4