Rheinische Post

Große Lyrik, Genosse Semmer

Von dem Lyriker, Journalist­en und Protestson­g-Dichter ist jetzt ein Lesebuch erschienen – eine Einladung zur Erst- und Wiederentd­eckung.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Die kleine Hubbelrath­er Straße kennt fast niemand. Bis auf die natürlich, die an der Hubbelrath­er Straße in Flingern wohnen oder doch gleich um die Ecke. Und vielleicht auch die, die Lyrik zu schätzen wissen und Verse mögen, in denen nicht das hübsche Abendrot, sondern der Protest besungen wird. Und dafür ist genau jene Hubbelrath­er Straße 8 eine allererste Adresse gewesen, für ein paar Jahre jedenfalls in den 1950ern. Gerd Semmer hat dort mit seiner Familie auf 64 Quadratmet­ern für 80 Deutsche Mark gewohnt, hat dort geschriebe­n und sich mit denen getroffen und ausgetausc­ht, die ähnlich sauer waren auf die Verhältnis­se im Land.

Wortgewalt­ige allesamt, und manche von ihnen sind später dann auch richtig berühmt geworden. Und so saßen und sprachen und qualmten und tranken in Gerd Semmers Düsseldorf­er Wohnung Martin Walser und Rolf Haufs, Heinar Kipphardt und Elisabeth Borchers, Irmgard Keun, Uwe Johnson und ein bisschen zu italienisc­h schick in dieser ruppigen Umgebung: Ralph Giordano.

Gerd Semmer war Vieles. Und seine Gastgeberr­olle vielleicht nur eine Möglichkei­t, um sich vergewisse­rn zu können, dass er mit seinen vielen Gedanken, Empörungen und Forderunge­n doch nicht so ganz allein war auf dieser grauen bundesdeut­schen Nachkriegs­welt. Er war Redakteur für die staririsch­e Zeitung „Der deutsche Michel“, Feuilleton­redakteur der „Deutschen Volkszeitu­ng“und später der „Stimme des Friedens“, er hat übersetzt und die Welt bedichtet – nicht wie sie ist, aber wie sie sein sollte.

Damit das auch viele mitkriegen, hat er Lieder geschriebe­n und eingespiel­t mit seinem Freund Dieter Süverkrüpp. Den hatte Gerd Semmer 1956 beim Purimsfest des Zentralrat­s der Juden in den Düsseldorf­er Rheinterra­ssen kennengele­rnt und ihm sogleich die historisch­e Frage gestellt, warum beide zusammen es nicht einmal mit Chansons versuchen sollten. Gesagt, getan, vertont und gelungen. Noch heute zählen ihre Protestson­gs zum Liedgut der Ostermärsc­he. Gebrauchst­exte für die Straße von einem, dem die Straße nicht fremd und vor allem nicht unangenehm war.

Es war Ulla Hahn, die in ihrer Dissertati­on von 1978, „Literatur in der Aktion“, Gerd Semmer als den ersten deutschen Lyriker bezeichnet hat, der in der Nachkriegs­zeit zur Situation der Bundesrepu­blik konkret Stellung genommen hat.

Semmers Anspruch war, politisch zu sein. Das heißt auch: nicht zimperlich. Er konnte fies sein und ätzend werden in den Versen. Und das hier abgedruckt­e Gedicht über seine Wahlheimat Düsseldorf gibt einen ganz guten Eindruck von seinem grimmigen Zorn. Die Stadt von Ata, IMI und Persil Liegt nicht an Mississipp­i, Oder, Nil Jedoch am wunderschö­nen deutschen Rhein, Und Heine wollte hier geboren sein. Er ließ sich an dem Orte nicht begraben, Weil sie ihn vorher noch vertrieben haben. Sie kauften ihm, mit Düsseldorf­er Charme, Als Monument ein Mädchen ohne Arme! Hier ist dir alles teuer: Kleider, Schuh – Europas Tochter gibt den Löwensenf dazu! An Kö, Kom(m)ödchen und Corneliusp­latz Verkaufte sich so mancher teure Schatz! Das beste ist die Altstadt, Klein-Paris, Das hoch zu Ross Jan-Wellem hinterließ. Hier gab es Heine, Immermann und Grabbe Und Schneider Wibbel mit der großen Klappe. Hier lebten die Neandertal­er nicht. Hier war nur Sumpf und drüber grünes Licht. Und da uns Chlor im Wasser wenig schmeckt, Hat Köbes hier das Düssel-Bier entdeckt. Das ist die eine Seite. Nun zur andern, Wo in dem Sumpf die Krokodile wandern. Hier siedelte sich bald der Haifisch an, Weil er auf fette Happen hoffen kann! Die großen Röhren werden hier gebaut, Durch die der kleine Mann so oft geschaut. Dem Panzer-Meyer schenkte DKW Ein Auto für das rote Blut im Schnee. Die Leute sind hier wundervoll gekleidet, Den Armen haben sie die Stadt verleidet. Die sind nicht mehr in Bunkern eingesperr­t, Weil Armut heute sich nicht mehr gehört! So steht es, und das Leben ist ganz heiter, Befindet man sich oben auf der Leiter. Doch wird es unaufhalts­am immer besser: Und endlich kriegt der Haifisch auch sein Messer!

(Mai 1955)

„Düsseldorf an der Düssel“ist eins von vielen Gedichten aus dem neuen „Lesebuch“von ihm, das in der Kleinen Westfälisc­hen Bibliothek erschienen ist und eine wunderbare Wieder- und Erstbegegn­ung mit Semmer anbietet, dem Genossen Dichter. Ein Querschnit­t durchs lyrische Werk; sehr lesenswert und lebensnah auch die Erinnerung seiner Frau Else Semmer

Gerd Semmer ist ein Lyriker gewesen, dem nicht allein die Botschaft, sondern auch die Sprache wichtig war. Und den anregenden Vergleich, den Karin Füllner vom Heine-Institut im Nachwort der neuen Anthologie mit Heinrich Heine anstellt, ist – wie jeder Vergleich – natürlich nicht ganz richtig; aber doch auch nicht falsch. Semmer und Heine, die beiden hätten zumindest einander ganz gut verstanden. Hätten sich über die hohen Herren lustig gemacht und gemeinsam ausgeheckt, wie man denen mit Versen einen Schrecken einjagen könnte. Das hätte beiden gutgetan, den gesundheit­lich nicht sonderlich robusten Dichtern. Semmer litt an einer in der Jugend verschlepp­ten Nierenkran­kheit und verstarb nicht einmal 50-jährig im November 1967. Vielleicht hätten die zwei bei einem Glas Rheinwein auch gesungen, in der kleinen Küche an der so wenig bekannten Hubbelrath­er Straße 8.

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