Das Haus der 20.000 Bücher
Claudia Roden, die berühmte Kochbuchautorin und Verfasserin von anerkannten Werken über jüdische und nahöstliche Gerichte, saß in der Küche, um sich mit Mimi über Speisen und mit Chimen über Geschichte zu unterhalten. Jeder Besucher war das, was man auf Jiddisch einen oyrekh nennt: ein Gast, der bewirtet, verpflegt und umsorgt werden muss, wie es Anstand und Tradition gebieten.
Ich bezweifle, dass jemals versucht wurde auszurechnen, wie viele Besucher im Laufe der Jahre den Weg in den Hillway fanden, wiewohl es als unterhaltsames Mathematikprojekt in der Schule getaugt hätte. Jedenfalls waren es Tausende, möglicherweise gar Zehntausende. Es liegt durchaus im Rahmen des Vorstellbaren, dass sich die Anzahl der Menschen, für die Mimi in all den Jahrzehnten Mahlzeiten zubereitete, mit der Menge der von Chimen angesammelten Bücher messen konnte. Mit ihrer Gastfreundschaft sowie der Tatkraft und Weisheit, die sie aufwandte, um den Hillway zu einem Ort der Begegnung zu machen, trachtete Mimi danach, die idealen Tugenden jüdischer Frauen umzusetzen, wie sie in den Sprüchen Salomos beschrieben werden. Sie hatte vieles mit Rahel Levin, Henriette Herz oder Fanny von Arnstein gemeinsam, jüdischen Frauen, die im Berlin und Wien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts Salons führten. Diese salonnières, kommentierten Emily Bilski und Emily Braun in Jewish Women and Their Salons, „präsentierten ein Ideal des sozialen Umgangs, das von Erwägungen gesellschaftlichen Ranges frei war“. Insbesondere Levin sei „für ihre Intelligenz, ihren Witz, ihr Einfühlungsvermögen und ihr Talent für Freundschaften“bekannt gewesen.
Die Küche entpuppte sich als der wahre Schmelztiegel des Hillway. Verschlafene Besucher, die sich für die Nacht auf Sofas, Gästebetten und, wenn es im Haus noch lebhafter zuging als gewöhnlich, auch auf Stühlen niedergelassen hatten, spazierten morgens in die Küche und stießen dort auf andere zeitweilige Bewohner oder Durchreisende, die eben erst eingetroffen waren. Mein Cousin Elliott erinnerte sich, während einer Stippvisite aus Amerika beim Frühstück in der Küche des Hillway den Dramatiker Harold Pinter getroffen zu haben. Mein Vater und meine Tante hielten das für unwahrscheinlich, denn ihres Wissens kannten Mimi und Chimen Pinter nicht. Aber es war auch nicht völlig ausgeschlossen, denn der Hillway 5 war schließlich einer der Knotenpunkte Londons. Häufig glich er eher einer Herberge als einem mittelgroßen Vorstadthaus, was nicht nur an der abgestandenen Luft lag, die mit zu vielen Menschen auf beengtem Raum einhergeht, sondern auch an dem Stimmengewirr in den unterschiedlichsten Sprachen.
Mitunter wurde man geradezu überwältigt. Selbst wenn ein eben eingetroffener Gast Mimi wissen ließ, dass er kurz zuvor in einem Restaurant ein Fünf-Gänge-Menü zu sich genommen hatte, stellte sie innerhalb von Minuten Schüsseln mit Suppe und Teller mit dampfenden Hühner- oder Enten- oder Lammgerichten vor ihn hin. Oftmals brachte sie all ihre „Kinder“durcheinander. „Iss noch etwas Huhn, Raph“, drängte sie mich und versuchte, ihren Irrtum wiedergutzumachen, sobald sie ihn bemerkt hatte. „Kolya, Rob, ich meine Sas- ha!“, und dann lachte sie. „Ojojoj!“, rief Chimen mit gespieltem Entsetzen. „Mir-ri, das ist unser ältester Enkel. Das ist Meester Sasha.“Als ich jünger war, versetzte mir dies einen Stich der Enttäuschung, doch mit der Zeit begriff ich, dass die Verwirrung nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus einem Übermaß an Liebe erwuchs. Sie wusste natürlich genau, wer wir alle waren, doch jeder von uns lag ihr so sehr am Herzen, dass wir gelegentlich für sie zu einer einzigen großen Masse verschmolzen, für deren Ernährung sie verantwortlich war.
Wann immer ich im Hillway übernachtete, konnte ich damit rechnen, dass ich am Morgen vom Anblick und Duft der Kartoffelpuffer empfangen werden würde, die Mimi für mich briet, oder von dem gewöhnlicher Pfannkuchen, die sie in rascher Abfolge auf einen Teller häufte, mit Zucker bestreute und mit Zitronensaft beträufelte, bevor sie sie straff wie Zigarren zusammenrollte. Aus der Küche – sie wurde, als ich noch sehr klein war, rund einen Meter in den hinteren Garten ausgebaut, um Mimi mehr Platz für ihre Kochkünste zu verschaffen – gingen wir Enkel am Guy-Fawkes-Abend stets auf die immer noch weitläufige Grasfläche hinaus, bevor unsere Väter sämtliche Feuerwerkskörper zündeten; sie waren von dem Geld gekauft worden, das wir uns durch den alten Brauch, einen „Penny für den Guy“zu erbetteln, beschafft hatten. Während sie am Nachthimmel explodierten, wagte sich Mimi, Teller mit koscheren Mini-Hot-Dogs in den Händen, bisweilen durch die gläserne Schiebetür in den Garten, um ihre Gäste zu versorgen. Eines Morgens Anfang der neunziger Jahre, als mein Bruder und ich in der Küche tellerweise Mimis Pfannkuchen verdrückten – damals war sie schon sehr alt und krank –, erhielt Chimen einen Anruf von Sotheby’s. Man bat ihn, sich einen Abguss von Stalins Totenmaske anzuschauen, der am Vorabend unter mysteriösen Umständen im Auktionshaus abgegeben worden war. In höchster Aufregung drängte Chimen uns, die Pfannkuchen rasch aufzuessen, dann eilten wir drei zu Sotheby’s. Dort sahen wir die Maske, ein gespenstisches Porträt des Diktators in seiner letzten Pose vor der Ewigkeit. Sie hatte etwas Abscheuliches an sich, und es war grässlich, die Maske zu berühren, die auf dem reglosen Gesicht eines Mannes geruht hatte, der für den Tod von Millionen verantwortlich war. Für Chimen, inzwischen fortwährend auf der Flucht vor den politischen Überzeugungen seiner jüngeren und mittleren Jahre, muss es besonders makaber gewesen sein.
Mimis Bedürfnis, gastfreundlich zu sein, hatte bisweilen fast etwas Pathologisches. Sie konnte ein leeres, stilles Haus einfach nicht ertragen. Sie war als kränkelndes Mädchen im verarmten, vom Ersten Weltkrieg zerrütteten East End aufgewachsen und hatte ihre eigenen Kinder in den bitteren Jahren des nächsten Weltkriegs großgezogen. Auch nach dem Krieg waren Lebensmittel noch lange rationiert. Daher konnte sie es nicht dulden, wenn ihre Gäste nichts aßen. Schließlich wurde die Rationierung von Fleisch und anderen Nahrungsmitteln erst 1954, als mein Vater zwölf Jahre alt war, aufgehoben.