Geflohen aus dem Norden
Sie sind der Diktatur von Kim Jong Un entkommen und haben oft Schreckliches erlebt. Aber am Leben in Südkorea scheitern viele.
SEOUL Ein seltsames Gefühl überkam Kim Hyeuk, als er die Frauen in den roten Trainingsanzügen sah. Wie sie marschierten, klatschten und riefen von den Tribünen der Sportarenen: „Kämpfen, kämpfen!“Sollte sich Kim Hyeuk als gebürtiger Nordkoreaner vor ihnen in Acht nehmen? Vor jener plötzlich nahen Welt, die der 24-Jährige vor sieben Jahren mit so großen Opfern hinter sich gelassen hatte? Als er mit seiner Familie in einer Nacht heimlich den Tumen-Fluss im Norden Richtung China durchquere, kam seine Mutter ums Leben. Er und sein Bruder mussten weiterziehen, über den Landweg bis Vietnam, um von dort aus mit Hilfe der südkoreanischen Botschaft nach Seoul zu fliegen. Das schien der Preis der Freiheit zu sein.
Bei den Olympischen Spielen aber, die im Februar im 100 Kilometer östlich der südkoreanischen Hauptstadt gelegenen Pyeongchang stattfanden, war plötzlich eine Hundertschaft von Delegierten aus dem Norden angereist. Aber die Angst, die Kim Hyeuk damals fühlte, hielt nur Momente an, wurde bald überlagert von Freude. „Die Nordkoreaner hier zu sehen war doch irgendwie unglaublich“, sagt er mit strahlenden Augen. Vor allem das Eishockeyteam der Frauen, gebildet aus Athletinnen aus Nord und Süd. „Bis vor kurzem hätte ich das nicht gedacht“, sagt Kim Hyeuk, „aber vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit, dass die zwei Koreas wieder zusammenfinden.“
Wird jetzt vielleicht nicht alles, aber doch vieles wieder gut? Kim Hyeuk gehört zu denen, die das glauben wollen. Er ist euphorisch. Er wartet in einem Café im chinesisch geprägten Stadtteil Daerin, wo er gleich einen südkoreanischen Freund trifft. Dass das Thermometer draußen minus zehn Grad anzeigt, beeindruckt den sportlich gebauten Kim Hyeuk auch nicht. Ins Café ist er mit geöffneter Jacke spaziert, hat einen „Ice Americano“bestellt. Für Kim Hyeuk jedenfalls ging es bei den olympischen Spielen um so etwas wie Identität.
Als er 2011 in Südkorea ankam, musste er zuerst die Schule nachholen, weil er im Norden vormittags häufig mit Feldarbeit verbacht hatte. Jetzt ist er an der Universität, studiert Politik. Aber im südkoreanischen Kapitalismus begleitet ihn noch immer ein Gefühl des Mangels. „So geht es vielen von uns hier“, sagt er und versucht das Gefühl zu erklären. Es sei nicht nur der Verlust von Familienmitgliedern, womit die meisten seit ihrer Flucht Erfahrung haben. „Wir sind einfach nicht gut genug“, sagt Kim Hyeuk leise. „Wir rennen hinterher.“
30.000 geflüchtete Nordkoreaner leben in Südkorea. Pro Jahr kommen rund 1000 von ihnen ins Land. Noch weit mehr dürften versuchen, den Norden zu verlassen, dabei aber entweder gefasst werden oder ums Leben kommen. Wer es in die Frei- heit schafft, wird erst einmal mit einer rauen Wirklichkeit konfrontiert: Im Süden ist das Leben schnell und teuer, die Produkte, die aus den Schaufenstern funkeln, sind häufig unerschwinglich. Trotz der für sie reservierten Studienplätze und Stipendien liegt die Abbrecherquote unter Flüchtlingen über dem nationalen Durchschnitt. Auch die Selbstmordrate ist bei ihnen deutlich höher als unter gebürtigen Südkoreanern, obwohl die im internationalen Vergleich schon weit oben liegt. Ihr nordkoreanischer Akzent stigmatisiert die Flüchtlinge noch zusätzlich.
Dass sich durch den neu belebten innerkoreanischen Austausch etwas an der Lage zwischen den beiden Ländern ändert, glauben längst nicht alle. Lee Aeran ist sogar gegen die Annäherung. „Was sich hier gerade abspielt, bricht mir das Herz “, ruft die 54-Jährige, während sie an den Tischen vorbei zur Küche stöckelt.
Seit gut 20 Jahren lebt Lee Ae Ran in Seoul, führt eines von nur wenigen Restaurants mit authentisch nordkoreanischer Küche. Die Stammkunden, die hier die Reisschale „Pjöngjang-Bibimbap“verzehren oder an den „Wiedervereinigungskeksen“knabbern, zählen