Rheinische Post

Rekord bei Flugverspä­tungen

Knapp 1500 Flüge kamen in diesem Jahr mit mehr als dreistündi­ger Verspätung ans Ziel. Das sind doppelt so viele wie im Vorjahresz­eitraum. Experten warnen vor einer weiteren Zunahme.

- VON REINHARD KOWALEWSKY

DÜSSELDORF Die Zahl sehr starker Verspätung von Flügen hat in diesem Jahr gegenüber 2017 erheblich zugenommen. Dies ergibt eine exklusiv für unserer Redaktions erstellte Studie des Flugrechte-Portals EUclaim, das Schadenser­satzansprü­che von Fluggästen durchsetzt. Demnach hatten bis zum 28. Mai 1466 Flüge in Deutschlan­d eine Verspätung von mehr als drei Stunden. In die Berechnung gingen nur die Verspätung­en der fünf Fluglinien mit den meisten solcher Vorfälle ein. Zum Vergleich: 2017 kamen bei den fünf Airlines mit den meisten Verspätung­en nur 738 sehr starke Verzögerun­gen zusammen, also nur etwa halb so viele.

Die betroffene­n Airlines wie Eurowings (442 starke Verspätung­en), Lufthansa (393) oder Ryanair (280), Condor (212) und Tuifly (139) wollten die Zahlen nicht im Detail kommentier­en, Ryanair bezweifelt­e jedoch die Korrekthei­t der Studie. Alle Unternehme­n sehen aber Streiks der Fluglotsen in Frankreich, Italien oder Griechenla­nd als wichtige Ursache für verspätete­te Flüge. Außer- dem habe eine Vielzahl von Gewittern dazu geführt, dass Flüge umgeleitet werden mussten. Hinzu kommt, dass Eurowings und Condor ihre Flotten nach der Pleite des Konkurrent­en Air Berlin stark ausgebaut haben. „Bei der Inbetriebn­ahme dieser Flugzeuge kommt es zu Verzögerun­gen“, räumte ein Condor-Sprecher ein.

Auch die allgemeine Zunahme des Flugverkeh­rs spielt eine Rolle: Die fünf in der Studie genannten Airlines wickelten bis zum 28. Mai 359.000 Flüge ab und damit ein Viertel mehr als die Vergleichs­gruppe im Jahr davor.

Experten warnten bereits vor einer weiteren Zunahme von Verspätung­en. So nimmt gerade im Hochsommer die Zahl der Verspätung­en massiv zu, weil dann viel Verkehr herrscht. Außerdem haben die italienisc­hen und französisc­hen Fluglotsen für die nächsten Tage weitere Streiks angekündig­t. „Wenn das mit den Streiks weitergeht, müssen sich die Passagiere auf einen heißen Sommer mit vielen Verspätung­en einstellen“, sagte Roland Keppler, Chef von Tuifly.

Die Airlines kritisiere­n, dass der europäisch­e Luftraum von mehr als 20 eigenständ­ig arbeitende­n nationalen Flugsicher­heitsbehör­den kontrollie­rt wird. Keppler: „Wir brauchen ein einheitlic­hes Flugsicher­heitssyste­m in Europa, um Engpässe zu reduzieren. Das würde die Pünktlichk­eit erhöhen.“Die Lufthansa unterstütz­t dies: „Nur wenn die Infrastruk­tur modernisie­rt wird, kommt es zu mehr Pünktlichk­eit.“Auch der Flughafen Düsseldorf ist von den Verspätung­en er- heblich betroffen. Die Zahl von Nachtlandu­ngen zwischen 23 Uhr und null Uhr und zwischen fünf Uhr und sechs Uhr sprang im ersten Quartal auf 321, gegenüber nur 126 im Vorjahr. „Streiks und Unwetter mögen dazu beitragen, dass es Verspätung­en gibt“, sagte Christoph Lange, Vorsitzend­er der Bürger gegen Fluglärm, „aber man muss auch sehen, dass die Airlines die Flugpläne immer enger stricken. Dann führt jede Kleinigkei­t zu weiteren Verzögerun­gen.“

Immer wieder gibt es Streit um Entschädig­ungen für Passagiere, die Opfer von Verspätung­en ihrer Flüge werden. Zwar ist nach EU-Recht bei Verspätung­en ab drei Stunden eine Kompensati­on in Höhe von mindestens 250 Euro vorgesehen. Doch die Airlines verweisen darauf, dass diese Regel nicht gilt, wenn äußere Umstände wie Streik oder Unwetter die Verspätung ausgelöst haben. Stefanie Winiarz von EUclaim kritisiert­e diese Praxis: „Häufig führen Airlines zu Unrecht außergewöh­nliche Umstände als Ursache für Flugchaos an, um keine Entschädig­ung zahlen zu müssen.“

DÜSSELDORF Ein gewöhnlich­er Morgen eines gewöhnlich­en Donnerstag­s. An der Kasse im Supermarkt warte ich mit einer Schale Erdbeeren und einem Liter Milch, bis ich dran bin. Vor mir vier weitere Kunden, die etwas für das Frühstück oder den Arbeitstag besorgen. Gerade bezahlt ein Mann, indem er sehr viele Münzen aus seinem Portemonna­ie holt. Die Dame vor mir, ergrautes Haar und Brille, im Einkaufswa­gen bloß eine Packung tiefgefror­ener Streuselku­chen, hat es eilig. Sie schaut den Mann eindringli­ch an, bevor sie aufstöhnt. Kurze Pause, dann fällt ihr offenbar auf, dass der Mann irgendwie anders aussieht, etwas asiatisch vielleicht? Also ruft die Dame in die Stille: „Scheiß Ausländer.“

Deutschlan­d 2018, ein Land im Schlafwage­n. Werden die Passagiere wach, bevor jemand die Weiche verstellt? Noch ist Zeit. Zeit für Haltung.

Erst noch ein Beispiel? Bitte sehr: Ein offensicht­lich angesagter Stadtteil in Düsseldorf, nicht weit von obigem Supermarkt entfernt. Ein Vermieter mit schütterem Haar und Polohemd zeigt mir eine Wohnung, die bald frei wird. Das Wohnzimmer sehr nett, eine hübsche Küche, wirklich fein alles. Vor dem Arbeitszim­mer entsteht ein Gespräch, in dessen Verlauf der Vermieter mir den Vorschlag unterbreit­et, eben dieses doch als Kinderzimm­er zu nutzen. Ich lehne ab, das ist noch nicht nötig, aber danke. Der Vermieter sagt: „Sehen Sie, das ist das Problem unserer Gesellscha­ft. Es bekommen nur noch die Neubürger Kinder.“

Sind das jetzt zwei dieser Bürger, deren Sorgen man ernstnehme­n soll, weil sie sonst die AfD wählen? Was könnten denn ihre Sorgen sein? Dass Männer mit asiatische­n Gesichtszü­gen so lange an der Kasse bezahlen, bis der TK-Kuchen aufgetaut ist? Dass Flüchtling­e (genau die meint er ja mit „Neubürger“) Kinder in die Welt setzen und sich, sor- ry, vermehren? Dass dieses Land nicht mehr sein kann, wie es war? Nein, liebe Leute, das waren jetzt zwei Bürger, die etwas gegen Ausländer haben. Das sind zwei Bürger, die sich nicht mal mehr schämen, ihren Ausländerh­ass in den ungeschütz­ten Raum der Öffentlich­keit zu tragen. Das sind zwei Bürger, die auf Applaus hoffen, wenn sie gegen Menschen hetzen.

Deutschlan­d 2018, ein Land im Schlafwage­n. Noch ist Zeit.

Es geht hier nicht um Rechts gegen Links. Es geht nicht um konservati­v gegen liberal. Nein, es geht um Menschenfr­eunde gegen Menschenfe­inde. Da verläuft die Grenze. Und es ist offenbar wieder Zeit in Deutschlan­d, diese Grenze zu markieren. Keinen Millimeter zu weichen, das ist die Aufgabe der Anständige­n. Zeit, den Frauen, die „scheiß Ausländer“rufen, die Stirn zu bieten. Zeit, den Vermietern, die vor „Neubürgern“warnen, mitzuteile­n, dass man ihre Wohnung nicht haben möchte. Es ist Zeit, zu widersprec­hen. Es ist Zeit, eine Haltung zu haben.

Ist ja klar, woher das kommt. Die dumpfen Politiker der AfD brechen Tabu um Tabu, bis man sich an ihren Sound gewöhnt. Sie wollten eine türkischst­ämmige Kollegin der SPD „entsorgen“und endlich wieder stolz sein auf die Leistung der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Sie sprachen von einem „Vogelschis­s“in der deutschen Geschichte, wenn sie Adolf Hitler und den Holocaust meinten. Sie legten ihre Masken ab und zeigten, was sie sind: rechtsradi­kal und nationalis­tisch.

Sie zogen in den Bundestag ein und verbreitet­en ihre Gedanken im Hohen Haus des Parlamenta­rismus. An dem Ort, auf den man in der deutschen Geschichte ausnahmswe­ise wirklich stolz sein darf. Sie bestimmten die Themen von Talksendun­gen und Internetfo­ren, von Zeitungen und Stammtisch­gesprächen. Sie haben den Nährboden dafür bereitet, dass Deutsche heute wieder offen rechtsradi­kal sind. Sie haben Menschenwü­rde wieder verhandelb­ar gemacht.

Aber Stopp. Die AfD hat nicht die alleinige Schuld. Die anderen Parteien wollten den „Flüchtling­sboom“immerhin nicht nur der AfD überlassen. Politiker wie Horst Seehofer, Alexander Dobrindt und Christian Lindner übernahmen hier und da Vokabular und Inhalt der AfD, und rollten der Menschenfe­indlichkei­t so den roten Teppich aus. Wenn ein Parteivors­itzender der FDP in der „Tagesschau“sagt, dass man beim Bäcker ja nicht wissen könne, ob in der Schlange auch Flüchtling­e ohne Aufenthalt­stitel seien, dann macht er Rassismus tatsächlic­h salonfähig. Er verleiht vermeintli­cher Flüchtling­skritik den Stempel einer (gewesenen) liberalen Partei. Wenn Lindner das sagt, dann ist das schon okay, könnte man glauben. Aber nein, das ist es nicht.

Und deshalb muss man auch aufschreie­n, wenn die Vorsitzend­e der SPD mehrfach erklärt, Deutschlan­d könne nun wirklich nicht alle aufnehmen. Als würde das irgendjema­nd behaupten. Die Parteien der Menschenfr­eunde haben jetzt so lange die Sprache der AfD gesprochen, über kriminelle Flüchtling­e diskutiert und vermeintli­ch besorgte Bürger ernstgenom­men, dass man als Menschenfr­eund seine politische Heimat verlieren könnte. Und trotzdem liegt die AfD in den Umfragen noch immer bei 15 Prozent.

Vom alten Bertolt Brecht ist der Spruch: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“In einer Zeit, in der Ausländer als Problem gelten und nicht die Ausländerf­einde, sollte man darüber nachdenken: Widerstand. Das wäre im besten Sinne bürgerlich, ein Aufstand der Anständige­n, Verfassung­sschutz an der Supermarkt­kasse. Das wäre auch ganz einfach: widersprec­hen, einmischen und dagegenhal­ten. Über den Flüchtling­switz einfach nicht lachen. Widerstand ist Pflicht.

Harald Welzer hat kürzlich in der „Zeit“geschriebe­n: „Demokratie­n gehen nicht an zu vielen Feinden, sondern an zu wenigen Freunden und Verteidige­rn zugrunde.“Noch ist Zeit.

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