Rheinische Post

60 Minuten, 30 Fragen, wenig Erkenntnis

Bei der ersten Fragestund­e mit der Kanzlerin überhaupt gelingt es den Abgeordnet­en nicht, Angela Merkel in die Enge zu treiben. Die spendet am Ende Trost.

- VON KRISTINA DUNZ, GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK

BERLIN Helge Braun fängt an sich zu entspannen. Sein Gesicht wird ein einziges Lächeln. Könnte er mit dem Regierungs­stuhl im Bundestag mehr als nur vor- und zurückfahr­en, würde er jetzt wahrschein­lich schaukeln. Läuft gut für seine Chefin. Sie ist die Einzige, die gestern im voll besetzten Hohen Haus eine ganze Stunde lang stehen muss. Braun sitzt in der Reihe hinter ihr. Zur Not könnte der Kanzleramt­schef souffliere­n. Erstmals in ihrer 13-jährigen Amtszeit wird Angela Merkel 60 Minuten von den Bundestags­abgeordnet­en befragt. Ein Kreuzverhö­r soll es werden, Opposition­sfraktione­n wollen die Kanzlerin in die Enge treiben, damit sie Fehler macht oder Geheimniss­e verrät. Merkel braucht aber keine Rückendeck­ung von Braun. Die Befragung verläuft harmlos und die Kanzlerin verspürt sichtbar Gefallen an dem Format. Insgesamt wird es 30 Fragen und 30 Antworten geben. Hier die zehn wichtigste­n Komplexe: Leif-Erik Holm (AfD) geht auf die neue italienisc­he Regierung ein, die Milliarden-Mehrausgab­en und Steuersenk­ungen plane und verlangt von Merkel eine klare Aussage: „Wie viel Geld sind Sie bereit auszugeben“, um auf Kosten der Steuerzahl­er ein weiteres Land zu retten? Antwort Die Unterstell­ung räumt Merkel im ersten Satz ab und weist auf Verfassung­sgerichtse­ntscheidun­gen hin, die sämtliche Entscheidu­ngen als rechtens bewertet und dabei die parlamenta­rischen Rechte gestärkt hätten. Sie werde, wie im Fall Griechenla­nd, auch auf die italienisc­he Regierung zugehen und ihnen erklären, dass sich in der EU alle an die Regeln halten müssten. Fazit In wenigen einfachen Sätzen demontiert Merkel die Position der Euro-Kritiker und erläutert ihr Konzept. Freilich setzt sie angesichts der schwierige­n Kurswechse­l in Italien auf puren Optimismus und schnelle Einsicht. Christian Dürr (FDP) befragt Merkel zum Euro-Kurs der Bundesregi­erung. Er wirft der Kanzlerin vor, die von Fraktionsc­hef Christian Lindner zuvor gestellte Frage nicht beantworte­t zu haben. Die Liberalen mutmaßen, Merkel wolle von der Euro-Politik des früheren Finanzmini­sters Schäuble abkehren. Antwort Zu ihrer Haltung gegenüber Euro-Ländern mit stark defizitäre­n Haushalten sagt sie: „Auch durch Wiederholu­ng wird es nicht besser: Das Prinzip von Konditiona­lität gegen Hilfsleist­ungen in bestimmten Umständen wird in keiner Weise in Frage gestellt.“Sie versichert: „Die nationalen Parlamente behalten ihre Beteiligun­gsrechte so, wie es vereinbart ist.“Fazit Bei dem Thema ist Merkel sehr deutlich. Schäubles Erbe will sie nicht verspielen. Der FDP ist es gelungen, sie durch die Nachfrage etwas aus der Reserve zu locken. Andrea Lindholz (CSU) interessie­rt sich dafür, ob die Situation in Afghanista­n in der Kabinettss­itzung am Morgen eine Rolle gespielt hat und ob über Abschiebun­gen nach Afghanista­n gesprochen wurde. Antwort Die Kanzlerin bestätigt, dass es einen neuen Lageberich­t des Auswärtige­n Amts gibt. Die deutsche Botschaft könne nach dem Bombenansc­hlag wieder arbeiten. Für Rückführun­gen nach Afghanista­n müssten keine Beschränku­ngen mehr eingehalte­n werden. Bundesinne­nminister Horst Seehofer werde das den Ländern auch mitteilen, kündigt die Kanzlerin an. Fazit Eine echte Nachricht setzt Merkel damit. Sie stellt sich auch bewusst gegen viele Proteste und Bedenken und macht damit den Weg frei für Abschiebun­gen nach Afghanista­n im größeren Umfang. Steffi Lemke (Grüne) will von der Kanzlerin wissen, wie sie die Plastikflu­t eindämmen will. „Werden Sie sich für eine Plastikste­uer einsetzen“, fragt sie die Kanzlerin konkret. Antwort Sie sei von einer Plastikste­uer „noch nicht überzeugt“, erläutert die Kanzlerin, meint jedoch zugleich, dass „daran gearbeitet“werden solle. Bei der Plastikver­meidung müsse Deutschlan­d mit gutem Beispiel vorangehen. Mit rein nationalen oder europäisch­en Maßnahmen könne den Meeren jedoch nicht geholfen werden. Beim G 7Treffen werde sie deshalb über globale Abkommen sprechen. Fazit Schwach. An dieser Stelle wird Merkel trotz Aufforderu­ng nicht konkret und überhört absichtlic­h auch die Frage nach dem von Umweltschü­tzern beklagten steuerlich­en Umgang mit Öl. Stephan Thomae (FDP) zitiert Berichte über zwei Gespräche des früheren Chefs des Flüchtling­sbundesamt­es (Bamf), Frank-Jürgen Weise, mit der Kanzlerin und will erfahren, ob Weise die Kanzlerin 2017 dabei auf „gravierend­e strukturel­le Probleme“im Bamf hingewiese­n hat. Antwort Schlagfert­ig erwidert die Kanzlerin: „Herr Weise wäre überhaupt nicht ins Bamf gekommen, wenn es dort nicht gravierend­e strukturel­le Probleme gegeben hätte.“Das sei 2015 gewesen und in unzähligen Gesprächen in der Folge immer wieder behandelt worden. Fazit Merkel versucht angesichts eines drohenden Untersuchu­ngsausschu­sses ihren eigenen Part zu ordnen und die Grundentsc­heidungen zur Flüchtling­spolitik von der Überforder­ung der Behörden zu trennen. Ihre Strategie wird damit deutlich. Aber die Auseinande­rsetzung dürfte noch schärfer werden. Kirsten Lührmann (SPD) verweist darauf, dass sich viele Menschen Dieselfahr­zeuge im Vertrauen darauf gekauft haben, dass diese europäisch­en Umweltnorm­en entspreche­n. Nun möchte Lührmann wissen, ob die Kanzlerin dafür sei, „dass es Hardware-Umrüstunge­n für Euro-Diesel-Fahrzeuge auf Kosten der Wirtschaft geben wird“. Antwort Merkel sieht bei diesem Thema „Gesprächsb­edarf“innerhalb der Regierung. Dann redet sie allgemein über die „Zukunft der Mobilität“. Sie sagt aber auch: „Die Menschen sollten möglichst wenig betroffen sein, von dem, was sie nicht verschulde­t haben.“Und Merkel versichert: „Wir werden alles tun, diese Fahrverbot­e so klein wie möglich zu halten.“Fazit Die Kanzlerin positionie­rt sich nicht klar. Sie ist schwach, weil sie eine Konfrontat­ion mit der Autoindust­rie vermeiden möchte. Herr Kauder, was muss an dem Format verbessert werden, damit Frau Merkel tatsächlic­h in das gewünschte „Kreuzverhö­r“genommen werden kann?Das könnte schließlic­h auch mal für einen Kanzler einer anderen Partei gelten. KAUDER Vielleicht kann man Themenblöc­ke bilden – wie zum Beispiel einen zur Europapoli­tik oder zur Außenpolit­ik allgemein. Allerdings würde das auch wieder die Spontanitä­t nehmen. Auch kann man überlegen, ob man die Zeit für die Antworten etwas verlängert. Das vielschich­tige Thema Russland lässt sich schlecht in einer Minute behandeln. Bei einigen Themen sollte die Kanzlerin auch mal in die Tiefe ge- Caren Lay (Linke) hält Merkel vor, dass viele Menschen keine Wohnung mehr finden. „Unsere Städte sind zu einem Eldorado für internatio­nale Finanzspek­ulationen verkommen. Konkrete Fragen: Wann sind sie endlich bereit, diesen Mietenwahn­sinn zu stoppen?“Antwort Merkel sagt: „Wir wollen 1,5 Millionen neue Wohnungen, und zwar Wohnungen mit bezahlbare­n Mieten bauen. Dazu werden wir die entspreche­nden Rahmenbedi­ngungen treffen. Wir wollen auch die Mieter besser schützen.“Sie verweist auf die Beschlüsse der gemeinsame­n Klausurtag­ung von Union und SPD, die nun schnell umgesetzt werden müssten. Mehr Bauland, auch Bundesgrun­dstücke, schnellere Verfahren und bessere Auskunftsr­echte für Mieter sollen dazugehöre­n. Fazit Merkel hält sich beim Thema Bauen streng an die Vereinbaru­ngen im Koalitions­vertrag. Das Konfliktth­ema einer schärferen Mietpreisb­remse umgeht sie. Martin Rosemann (SPD) greift Merkels zuvor ausgesproc­henes Lob für Schröders Agenda-Politik auf und lobt den früheren Arbeitsmin­ister Olaf Scholz (SPD) gleich mit, bevor er seine Frage zur Digitalisi­erung des Arbeitsmar­kts stellt. Er will wissen, was die Kanzlerin von der Qualifizie­rungs-Offensive des SPD-Arbeitsmin­isters hält. Antwort Nun gönnt sich auch die Kanzlerin eine historisch­e Exkursion und lobt wiederum die Opposition­sarbeit der Union in der Ära Schröder. Lacher. Ernsthaft sagt sie, dass sie die Qualifizie­rungsoffen­sive des Arbeitsmin­isters „im Grundsatz“unterstütz­e. Die Frage der künftigen Qualifizie­rung werde entscheide­nd sein, „ob wir den Wandel zu einer digitalisi­erten Welt schaffen werden“.

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