Rheinische Post

Asylstreit wird zur Regierungs­krise

Der Streit über die Flüchtling­spolitik zwischen CDU und CSU ist erneut entbrannt und bedroht den Zusammenha­lt der Koalition. Innenminis­ter Seehofer plant einen nationalen Alleingang. Die Kanzlerin kämpft um eine EU-Lösung.

- VON BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

BERLIN Der erbitterte Streit zwischen CDU und CSU über den flüchtling­spolitisch­en Kurs hat die Bundesregi­erung nach noch nicht einmal 100 Tagen im Amt in eine existenzie­lle Krise gestürzt. Bundeskanz­lerin Angela Merkel ( CDU) lehnt trotz maximalen Drucks der bayerische­n Schwesterp­artei einen nationalen Alleingang bei Zurückweis­ungen von bestimmten Asylbewerb­ergruppen an der deutschen Grenze ab. Sie wolle bis zum EUGipfel am 28. und 29. Juni bilaterale Abkommen mit Italien und anderen stark vom Migrations­druck betroffene­n EU-Ländern über die Rücknahme der Flüchtling­e schließen, sagte Merkel am Donnerstag in einer vierstündi­gen Sondersitz­ung der CDU-Abgeordnet­en.

Dafür musste die Bundestags­sitzung unterbroch­en werden. CDU und CSU tagten getrennt –eine historisch­e Situation, die die dramatisch­e Lage der Schwesterp­arteien offenlegte. Die Lage hatte sich am Donnerstag­morgen zugespitzt, nachdem es am Vorabend bei einem Krisentref­fen der Parteiführ­ung von CDU und CSU keine Einigung gegeben hatte.

Die CSU bezweifelt, dass es Merkel gelingt, in nur zwei Wochen neue innereurop­äische Rücknahmea­bkommen zu schließen. Sie beharrt daher auf einer nationalen Lösung. CSU-Chef und Innenminis­ter Horst Seehofer drohte in der internen Sitzung damit, die Bundespoli­zei per Ministeren­tscheid anzuweisen, mehr Flüchtling­e als bislang an der Grenze zurückzusc­hicken. Dazu hätte Seehofer als Innenminis­ter die rechtliche­n Möglichkei­ten: Er bräuchte nicht die Zustimmung der Kanzlerin oder des Kabinetts.

Die CSU will am Montag in einer Vorstandss­itzung besprechen, ob Seehofer diesen Schritt gehen soll. In Berlin wurde das als ein Ultimatum an Merkel verstanden, übers Wochenende noch einzulenke­n. Käme es tatsächlic­h zum Alleingang, wäre die Kanzlerin massiv beschädigt und ihre Regierung voraussich­tlich am Ende. Merkel würde wahrschein­lich Seehofer als Innenminis­ter entlassen. Per Vertrau- ensfrage könnte sie dann im Parlament feststelle­n, dass sie nicht mehr die Mehrheit hinter sich hat. Damit wäre eine Neuwahl in Sicht.

Auf die Frage, ob die Grünen für eine Regierungs­beteiligun­g bereit stünden, sagte Parteichef Robert Habeck unserer Redaktion: „Die Zeiten sind zu ernst, um jetzt Spielchen zu spielen. Dass wir in den Jamaika-Verhandlun­gen und davor in den vielen Krisen bewiesen haben, dass wir grundsätzl­ich bereit sind, Verantwort­ung zu übernehmen, weiß inzwischen jeder.“

Im Kern geht es in dem Streit um die Frage, ob Deutschlan­d künftig mehr Flüchtling­e als bisher an der Grenze zurückweis­t. Schon jetzt werden Migranten ohne Papiere abgewiesen. Zusätzlich will Seehofer nun solche Flüchtling­e nicht mehr ins Land lassen, die bereits in einem anderen EU-Land Asyl beantragt haben. Dies sind etwa 15 Prozent der ankommende­n Migranten.

Der Streit zwischen CDU und CSU geht auch ums Grundsätzl­iche. Bayerns Regierungs­chef Markus Söder, der am Mittwoch seinen Wahlkampf in Bayern unterbroch­en hatte und für die Krisensitz­ungen nach Berlin gereist war, kämpfte in der Hauptstadt nicht nur für seine Flüchtling­spolitik, sondern erklärte auch, die Zeit des geordneten Multilater­alismus gehe zu Ende. Eine solche Aussage wiederum ist ein Schlag ins Gesicht für Merkel, ihre Politik, ihr Lebenswerk.

Die CSU-Landesgrup­pe stellte sich geschlosse­n hinter Söder und Seehofer. Merkel wiederum gelang es, die Mehrheit der CDU-Abgeordnet­en hinter sich zu versammeln, nachdem die Unionsfrak­tion ihr am Dienstag die Gefolgscha­ft versagt hatte. Zuvor hatte Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) , der in der Union hohen Respekt genießt, mit viel Verve Merkels Flüchtling­spolitik in der Fraktion verteidigt und sie in einen großen pro-europäisch­en Rahmen eingeordne­t.

Gegenspiel­er in der Fraktion war Präsidiums­mitglied und Gesundheit­sminister Jens Spahn. Er wollte ein Ende der Debatte der CDU-Abgeordnet­en und eine gemeinsame Sitzung mit der CSU durchsetze­n. Bei der Abstimmung unterlag er allerdings. Die anderen Parteien reagierten mit Sorge auf den Streit in der Union. SPD-Chefin Andrea Nahles mahnte den Koalitions­partner, den Streit zu beenden. Die FDP will eine Klärung der Streitfrag­e im Bundestag herbeiführ­en. Sie beantragte für Freitag eine namentlich­e Abstimmung über die Zurückweis­ung von Flüchtling­en. Leitartike­l Seite A 2 Politik Seiten A 4 und A 5

 ?? FOTO: AFP ?? Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) am Beginn des Krisentref­fens zur Asylpoliti­k am Mittwochab­end.
FOTO: AFP Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) am Beginn des Krisentref­fens zur Asylpoliti­k am Mittwochab­end.

Newspapers in German

Newspapers from Germany