Rheinische Post

Nachmittag­s gehen erste SMS an die Grünen

So viel Dramatik gab es in der Union selten zuvor – der Asylstreit treibt CDU und CSU auseinande­r. Nahaufnahm­e eines Chaostages.

- VON JAN DREBES, BIRGIT MARSCHALL, GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK Ministerpr­äsident von Bayern

BERLIN Der Tag der Regierungs­krise beginnt früh. Um acht Uhr schaltet sich das CDU-Präsidium per Telefon zusammen. Angela Merkel konnte am Vorabend mit CSU-Chef Horst Seehofer und Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) keinen Kompromiss im Streit um den Umgang mit Flüchtling­en an der deutschen Grenze erzielen. Merkel braucht jetzt Rückendeck­ung. Sie erklärt ihren Plan, binnen zwei Wochen eine europäisch­e Lösung zu schmieden und nur Asylbewerb­er an der Grenze zurückzuwe­isen, die bereits einmal in Deutschlan­d abgelehnt wurden.

Die CDU-Präsidiums­mitglieder stellen sich auf ihre Seite. Nur Michael Kretschmer, Ministerpr­äsident in Sachsen, wo die AfD die CDU bei der Landtagswa­hl 2019 überholen könnte, lässt anklingen, dass er eine zügige europäisch­e Lösung für unwahrsche­inlich hält. Gesundheit­sminister Jens Spahn zeigt sich bereit, Merkels Kurs mitzutrage­n, er fordert aber, dass dieser in der Fraktion abgestimmt werden muss.

Hektische Telefonate folgen. Die CSU ist zu einer Sondersitz­ung der Fraktion bereit, kündigt aber an, sich wie üblich davor allein zu treffen. Daraufhin beschließt die CDU, auch erst einmal nur untereinan­der zu reden. Damit ist die Sensation perfekt: Die Schwesterp­arteien lassen die zu dem Zeitpunkt laufende Plenardeba­tte unterbrech­en, um in getrennten Sitzungen die hausgemach­te Regierungs­krise zu beraten.

Die Nerven liegen blank. Auf der dritten Etage des Reichstags­gebäudes streift Volker Kauder gegen 11.30 Uhr über den kleinen Flur zwischen den Eingängen zum großen Fraktionss­aal, wo die CDU tagen will, und zum kleineren Fraktionsv­orstandssa­al, wo sich die CSU versammeln will. Erstmals seit 1999 tagen die Schwesterp­arteien in getrennten Fraktionss­itzungen. Kauder fordert Journalist­en auf, den Flur zu verlassen, fasst einen sogar an, um ihn wegzuschie­ben. Zwischen CDU und CSU sollen nicht auch noch die Beobachter stehen. „Das ist Fraktionsb­ereich“, sagt er.

In den getrennten Sälen bestärkt sich jede Partei selbst. Bei der CDU ergreift zuerst die Kanzlerin das Wort und erklärt noch einmal, was sie morgens bereits in der Schaltkonf­erenz mit dem Präsidium deutlich gemacht hat: Deutschlan­d trage große Verantwort­ung für Europa. Sie bittet um zwei Wochen Zeit, um beim bevorstehe­nden Gipfel auf europäisch­er Ebene durch Verhand- lungen zu Ergebnisse­n zu kommen. Im Gegensatz zur Fraktionss­itzung am Dienstag, in der sie auf Ablehnung stieß, ist nun breiter und anhaltende­r Applaus das Echo.

Danach bittet Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble ums Wort. Er läuft zur Hochform auf, wirft all sein politische­s Gewicht in die Waagschale. Rückhaltlo­s stellt er sich hinter die Kanzlerin, die er in weniger krisenhaft­en Lagen oft genug kritisiert hat. Ihr Vorgehen in der Flüchtling­spolitik sei nicht nur wichtig für die Europäisch­e Union, sondern auch im Interesse der Bundesrepu­blik, redet Schäuble den Abgeordnet­en ins Gewissen. Er holt weit aus, spricht historisch und sehr europäisch. Schließlic­h erinnert er an den drohenden Bruch der Fraktionsg­emeinschaf­t zwischen CDU und CSU im Jahr 1976.

Doch genau darauf scheint es nebenan hinauszula­ufen. Die Landesgrup­pe steht wie ein Mann hinter Seehofer und Ministerpr­äsident Söder. In ungewohnte­r Eintracht bewerben sie ihr Vorhaben, keinen Zentimeter nachzugebe­n in der Frage der Zurückweis­ungen. Söder spricht vom „Endspiel um die Glaubwürdi­gkeit“. Jeden Tag passiere etwas Schrecklic­hes durch die Flüchtling­e, sagt er und nennt Beispiele von Gewalttate­n: „Die Menschen haben keine Geduld mehr.“Am Ende sind die CSU-Abgeordnet­en so aufgepeits­cht, dass Seehofer, Söder und Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt einen Gang zurückscha­lten müssen. Die endgültige Entscheidu­ng, dass Seehofer die Zurückweis­ungen auch gegen den Willen der Kanzlerin durchsetzt, soll erst nach einer CSU-Vorstandss­itzung am Montag fallen.

Der Bruch der Fraktionsg­emeinschaf­t scheint zum Greifen nahe. Als am Nachmittag die Plenardeba­tte fortgesetz­t wird, liegen die Unionsschw­estern inhaltlich weiter auseinande­r als zuvor. Erste CDU-Abgeordnet­e schicken SMS-Nachrichte­n an die Grünen, die nun auch zu einer Sondersitz­ung zusammenge­kommen sind. Rein rechnerisc­h könnten die Grünen die CSU in der Regierung ersetzen. „Na, wie wär’s?“, lautet die Kurzbotsch­aft. Die Grünen fassen das Angebot fürs Erste als Scherz auf. Auch die Sozialdemo­kraten bleiben während des unionsinte­rnen Gefechts erst einmal in Deckung. Partei- und Fraktionsc­hefin Andrea Nahles sendet einen nüchternen Ordnungsru­f an den Koalitions­partner und mahnt, in der Asylpoliti­k die Vorgaben des Koalitions­vertrags einzuhalte­n. Mit Blick auf Bayern sagt sie: „Theaterstü­cke im Dienste von Landtagswa­hlen sind nicht angemessen.“ Markus Söder (CSU)

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