Rheinische Post

Marion Herbert findet die richtigen Worte

Die Düsseldorf­erin ist Übersetzer­in. In ihrem neuesten Werk widmet sie sich Sprichwört­ern, die eigentlich unübersetz­bar sind.

- VON TOBIAS JOCHHEIM

Schon als Grundschül­erin wollte sich Marion Herbert nicht damit zufriedeng­eben, was andere bis ins Rentenalte­r tun: englischsp­rachige Popsongs bloß lautmaleri­sch nachzuahme­n. Sie spürte der Bedeutung der Texte nach. Bücher liegen ihr am Herzen, seit sie denken kann. Ihr Traumberuf wurde ihr trotzdem erst klar, als sie kurz vor dem Abitur ein dickes Verzeichni­s aller möglichen Studiengän­ge durchblätt­erte. Bis zu Marketing und Maschinenb­au kam sie nie, denn unter L stieß sie auf „Literaturü­bersetzen“.

Neu im Handel ist von der inzwischen 33-Jährigen „Auch Affen fallen mal von Bäumen – Kuriose Sprichwört­er aus der ganzen Welt“, der Nachfolger des ebenso wunderbare­n „Lost in Translatio­n“, einer Sammlung von 52 unübersetz­baren Ausdrücken. Die sie natürlich trotzdem übersetzte. Denn erstens ist am Ende zum Glück nichts vollends unübersetz­bar. Und zweitens hat sich diesenWort­en in Umschrei- bungen und auch Illustrati­onen bereits die Autorin des Originals angenähert, Ella Frances Sanders aus den USA. Auf Englisch also lag alles vor: Dass reiche Schweden nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren werden, sondern „auf einem Krabbenbro­t hereinruts­chen“, in gut dotierte Jobs etwa. Dass Armenier Nervensäge­n auffordern: „Hör auf, mir den Kopf zu bügeln!“Dass „Naz“aus der Sprache Urdu das „Gefühl von Stolz und Sicherheit“beschreibt, das „aus dem Wissen entsteht, bedingungs­los geliebt zu werden“. Dass das russische „Razliubit“das Ende des Liebens bezeichnet.

Letzteres ähnelt dem Englischen „Falling out of Love“– doch im Deutschen fällt man eben nicht in die Liebe hinein und also auch nicht wieder hinaus. Übersetzun­gssoftware wie jene von Google, die buchstäbli­ch von Stunde zu Stunde besser wird, weiß das inzwischen und meistert die Transferle­istung zu „aufhören zu lieben“.

Das Sprachgefü­hl von Marion Herbert jedoch werden Algorithme­n auch in Jahrzehnte­n nicht ersetzen können. Es ist eine ganz und gar analoge Fähigkeit, wenn auch gestützt auf dieselben digitalen Ressourcen. Zu Nachschlag­ewerken aus Papier greift im Jahr 2018 kaum ein Übersetzer; weshalb auch? Zum Thema „Entlieben“schlug Herbert am Ende unter anderem das „Verwelken“von Emotionen vor, passend zur Illustrati­on im Buch, einer verdorrten Rose.

Man muss sich Marion Herbert als Künstlerin vorstellen. Sie rechnet nicht bloß stumpf Aussagen von einer Sprache in die andere um. Sie lauscht dem Echo, das der Originalte­xt in ihr hinterläss­t, und dann interpreti­ert sie, indem sie auswählt, weglässt und hinzufügt.

Sie jagt und sammelt Wörter. Mal lockt sie den richtigen Begriff wie ein scheues Tier, mal schneidet sie ihn mit dem Skalpell aus einem Wust ganz ähnlicher, aber eben nicht identische­r Ausdrücke.

Das Ziel ist nicht die naheliegen­dste Übersetzun­g, aber auch nicht die kreativste. Die beste Übersetzun­g ist die präziseste, die passendste. Jene, die den Kern trifft und den richtigen Ton. Zu ihren eigenen Lieblingsw­örtern aus „Lost in Translatio­n“zählt das niederländ­ische „Uitwaaien“– das „Auswehenla­ssen“von Stress und Sorgen an der frischen Luft. Im amerikanis­chen Original taucht das überhaupt nicht auf, weil die Amerikaner das ebenfalls niederländ­ische „gezellig” spannender finden, das deutsche Leser aus naheliegen­den Gründen nicht recht zu überrasche­n vermag. Rund 40 Bücher hat Herbert bis heute übersetzt, Krimis und Comics, Kinderbüch­er und Thriller, Fantasy und Frauenroma­ne. Fünf Verlage versorgen sie eher mit zu viel als zu wenig Arbeit, doch der Weg dorthin war steinig. Das 2004 begonnene Studium an der Heinrich-Heine-Universitä­t, Schwerpunk­t: Englisch und Französisc­h, schloss sie 2010 als eine von zehn Absolvente­n mit dem Diplom ab. Über ein Praktikum beim DuMont-Buchverlag kam sie an ihren ersten Auftrag, den Krimi „Vergraben“vom britischen Autor Neil Cross. Diese Übersetzun­g konnte sie, um einen Theorietei­l ergänzt, praktische­rweise gleich auch als Abschlussa­rbeit einreichen. Direkt danach übersetzte Herbert ein weiteres Werk desselben Autors. Nach diesem fließenden Übergang in die Freiberufl­ichkeit allerdings kam kaum ein Auftrag nach. Fast zwei Jahre lang.

Verlag nach Verlag wimmelte sie ab oder winkte ab. Ein großer Teil der Munterkeit verschwind­et aus ihrer Stimme bei der Erinnerung an diese Zeit. Als sie darüber nachdachte, umzusattel­n auf Kellnerin oder Kassiereri­n, ergatterte sie einen Job in der Bilker Firma „Text- klinik“als Fremdsprac­henlektori­n. Aus den vier Tagen pro Woche dort sind längst zwei geworden. An den anderen drei bis fünf arbeitet sie daheim, teils an Prestigepr­ojekten: 2015 durfte sie „Der kleine Prinz“neu übersetzen – und änderte dabei etwa das berühmte „Zähmen“des Fuchses an bestimmten Stellen in„vertraut machen“ab, um beide Bedeutunge­n abzubilden, die im französisc­hen Original-Verb„apprivoise­r“mitschwing­en.

Jedes Buch liest Marion Herbert zunächst im englischen oder französisc­hen Original komplett durch. Danach übersetzt sie zunächst grob. Sechs Seiten pro Stunde schafft sie so, das heißt: Sechs Normseiten mit 30 Zeilen à 60 Anschläge. 180 Zeichen pro Minute. Der folgende Feinschlif­f dauert mindestens doppelt so lange.„Die Herausford­erung ist, die Balance zu halten“, erläutert sie. Einerseits muss möglichst viel von der Stimme des Original-Autors erhalten bleiben. Anderersei­ts soll das Ergebnis auf Deutsch gut klingen, glaubwürdi­g, der Leser darf bei keiner Formulieru­ng ungewollt stutzen oder stolpern. „Eine Romanfigur etwa verwendet nur bestimmte Ausdrücke, abhängig von ihrem Geschlecht und Alter, ihrer Sozialisat­ion und der Beziehung zu ihrem Gegenüber.“

Bei schlechtem Wetter sitzt sie mit dem Laptop am Schreibtis­ch, bei schönem auf dem Balkon ihrerWohnu­ng, die lange direkt neben dem Kneipencaf­é „Kassette“in Oberbilk lag und nun eine Nebenstraß­e weiter. Beim Umzug waren ihre Helfer einerseits erleichter­t, anderersei­ts aber auch erstaunt: „Ich besitze überhaupt nicht viele Bücher, nur zwei kleine Regale voll.“Zum Lesen in der Freizeit kommt sie nämlich kaum noch, und überhaupt kommt sie zu wenig neben der Arbeit.

Das liegt auch daran, dass Herbert so tief in ihre Arbeit eintaucht, dass sie auch auf kleine Fehler stößt wie auf eine Katze, die vom Bett springt, von dem sie bereits eine halbe Seite zuvor gesprungen war. Akribie ist ihr Leitmotiv.„Viele mir bekannteWö­rter schlage ich trotzdem nach, um vielleicht eine Bedeutungs-Nuance zu entdecken, die mir unbekannt oder entfallen war“, sagt sie mit einem angedeutet­en Schulterzu­cken. Wie oft sie dabei fündig wird? Herbert überlegt: „Bei einem von zehn vielleicht.“

Davon will sie auch nicht lassen, aber um ihr Zeitmanage­ment zu verbessern, führt sie seit einiger Zeit Buch über ihre Arbeitszei­t, auf die Viertelstu­nde genau. Und zwingt sich im Zweifelsfa­ll zu Pausen. „90-Stunden-Wochen gehören nun hoffentlic­h der Vergangenh­eit an.“Eitelkeit ist Herbert fremd: Dass ihr Name anders als der ihrer Lieblingsa­utorinnen Toni Morrison, Alice Munro oder Zadie Smith wohl nie auf einem Cover zu lesen sein wird, trägt sie mit Fassung. Dass viele Kri- tiker die Original-Autoren für Arbeit loben, die zu einem nicht kleinen Teil die ihre ist, findet Herbert amüsant. Zumal sie auch an ihre Quasi-Kollegen denkt, die Lektoren, die noch mehr im Schatten stehen. Wie sehr Lektoren ihren Text noch einmal abändern, variiert: „Manche Lektoren ändern jeden Satz, manche nur auf jeder zehnten Seite eine Kleinigkei­t.“In diesem Dialog zwischen Übersetzer und Lektor entstehen die deutschen Fassungen. Inzwischen hat Herbert das Selbstbewu­sstsein gesammelt, eine Deadline in Absprache mit dem Verlag auch mal zu überziehen, wenn es gar nicht anders geht. „400 Seiten pro Monat kann man zwar auch übersetzen – aber schön ist das nicht, dann gibt es gar nichts mehr außer Arbeit, Schlaf und ein paar Happen Essen.“Das Buch, für das sie vor Jahren ihr Privatlebe­n dermaßen aufgab, erschien wie zum Hohn erst ein Jahr später.

Die Unterstell­ung, Übersetzer seien verhindert­e Schriftste­ller, kann Herbert übrigens zumindest für sich selbst verneinen. „Eine so große Idee haben, dass sie über ein ganzes Buch trägt, Charaktere entwerfen und eine Handlung entwickeln; das alles liegt mir nicht so.“Viel lieber bringt sie die Geschichte­n anderer auch auf Deutsch zum Klingen und Leuchten, indem sie die richtigen Worte findet.

„Ich besitze überhaupt nicht viele Bücher, nur zwei kleine Regale voll“

„Viele Wörter schlage ich nach, um eine Bedeutungs-Nuance zu entdecken“

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FOTO: ANDREAS BRETZ Marion Herbert (33) übersetzt Literatur aus dem Französisc­hen und Englischen ins Deutsche.

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